Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
die an den Kindern begangen wurden, ist lang. Es ist eine Qual, sie zu lesen, es ist eine Qual, sie zu beschreiben. Was für eine Qual muss es gewesen sein, sie zu erleiden. Außer der körperlichen und seelischen Folter wuchsen sie in einer Welt ohne Farbe auf, trotz gelber Mimosenwälder vor schneebedeckten Berggipfeln unter blauem Himmel. Johannes Wieske steht für Kontinuität. Er hatte schon die Baracke in Heide umgebaut und überwachte von 1959 bis 1960 den Bau des neuen Jugendheims. Die Texte der Broschüre hat er auch gereimt:
E s ist nun fünfzig Jahre her,
als wir herkamen übers Meer
und gründeten im Chileland
was heute allen ist bekannt.
Wir mussten viele Jahre bauen
Und taten es mit Gottvertrauen
Und immer wieder neuem Mut
Was langsam wurde, war dann gut.
Bis alles das entstanden war,
was man nimmt heut mit Augen wahr,
und überwinden taten wir
das, was uns traurig machte hier.
Davon wir wollen nichts mehr sagen
und niemals mehr darüber klagen.
Was das war, »was uns traurig machte hier«, lässt er offen. Doch Trauer ist kein ausreichendes Gefühl für Folter, Sklaverei, Zwangssterilisation, Mord, sexuelle Gewalt gegen Kinder, Waffenhandel und welche Verbrechen noch begangen wurden. Doch das Schweigegebot, das Paul Schäfer verhängte, gilt noch. Es zeichnet sich keine Veränderung der inneren Einstellung ab. So mahnt auch die Broschüre:
Wer die Ruhe hat gefunden,
der zählt zu den Gesunden,
die auch können stille sein,
wenn der Blitz schlägt manchmal ein.
Dann folgen Bilder von Gräbern auf dem Friedhof der Villa Baviera.
Eine weitere Passage bezieht sich auf die Vergangenheit. Sie ist kurz und voller Lügen: »Wir kamen 1961 hier nach Chile mit der Absicht, den Opfern des Erdbebens von 1960 zu helfen, insbesondere den Waisenkindern, die ihre Eltern im Erdbeben verloren hatten. Man kann diese aufrichtigen Absichten nicht infragestellen mit dem Wissen, das dann später über das Verhalten des Leiters dieser Gemeinschaft bekannt wurde. Die Geschichte der sogenannten ›Colonia Dignidad‹ ist ein bedauerlicher Abschnitt unserer Vergangenheit, die vor den chilenischen Gerichten geklärt ist bzw. noch geklärt wird. Der ehemalige Leiter ist inzwischen verstorben.«
Keinem einzigen erdbebengeschädigten Chilenen wurde geholfen. Die Verbrechen Schäfers kannten viele schon in Deutschland. Und er war nicht der einzige Verbrecher in der Kolonie.
Der alte Film aus der Frühzeit der Sekte gibt unbewusst Antwort auf diese Tendenz zum Verdrängen. Während im Hintergrund Marschmusik spielt, reimt der Sprecher von damals:
Doch auch das Wenige, das wir gezeigt,
beweist, dass die Vergangenheit nicht schweigt.
Vielleicht werden es erst die Enkel sein, die nicht schweigen, sondern sich mit der Geschichte ihrer Großväter und Großmütter auseinandersetzen.
Es sind wenige, denn nur die Oberschicht in der Colonia Dignidad durfte Kinder zeugen. Doch behalten durften sie sie nicht. Familien gab es keine, Kinder wurden von Tanten in Gruppen erzogen – eher: abgerichtet. Kurt Schnellenkamp gehörte zu den Herrschern, er hatte viele Kinder. Klaus, eines von ihnen, wuchs in der Kolonie auf, ohne seine Eltern zu kennen. Diese privilegierte Geburt bewahrte die Kinder nicht vor Folter, Angst und Vergewaltigung. Klaus Schnellenkamp berichtet davon in seinem Buch Geboren im Schatten der Angst . Doch Bücher von Überlebenden der Colonia Dignidad kann man an einer Hand abzählen. 88 Die meisten schweigen bis heute. Die Eltern chilenischer Kinder brachten den Stein ins Rollen, der Paul Schäfer schließlich doch unter sich begrub. Scham, wohl auch Schuldgefühle rauben den meisten deutschen Opfern bis heute die Sprache.
Gudrun und Wolfgang aber berichten, was ihnen geschah. Und was sie taten. Die Aussagen von Gudrun und Wolfgang Müllersind durch Dokumente, Fotos, Akten und Zeugen gestützt. Ich habe mich besonders bemüht, auch Zeitzeugen zu finden, die in Berührung mit dem Schäfer-Regime kamen, aber rechtzeitig den Absprung schafften, also nicht mehr verwickelt sind. Wie in einer Zeitreise versucht diese Recherche auch die Atmosphäre und das Lebensgefühl der Fünfzigerjahre spürbar zu machen, auf deren Fundament der »Erfolg« Paul Schäfers möglich wurde. Einige der Zeitzeugen sind achtzig Jahre oder älter. Gerade sie halfen, die Atmosphäre zu vermitteln, denn diese Generation hat dramatische Erlebnisse gespeichert, aber kaum Gelegenheit bekommen, sie zu verarbeiten. Wenn sie davon
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