Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Male musste sie das in der Kolonie hören! Es ist eine von Schäfers Lieblingsbeschimpfungen. Auf dieses Wort sind sie allekonditioniert; Angst und Panik löst es aus. Am liebsten würde sie Wolfgang hier stehen lassen, hilflos. Aber das tut sie nicht. Sie schiebt ihn zurück ins Heim. Sie ist sehr verletzt, möchte weinen. Aber sie tut es nicht.
»Du musst dich bei mir entschuldigen«, sagt sie zu ihm.
»Wofür denn?« Wolfgang weiß nicht, was sie meint. Sie erzählt es ihm. Er kann sich nicht vorstellen, dass er diese Worte gesagt hat.
»Wenn du dich nicht entschuldigst, komme ich nicht zurück«, sagt sie und geht.
Wolfgang kann ihr nicht folgen. Er ist verzweifelt. Er weint. Er erinnert sich nicht, dass er gesagt hat, was sie ihm vorwirft. Aber wenn er sich nicht entschuldigt, kommt sie nicht wieder.
Schließlich entschuldigt er sich.
Es ist gut möglich, dass gar nicht Wolfgang diese Worte geschrien hat. Sondern Paul Schäfer, der immer noch eine Nische in Wolfgangs Kopf besetzt hält und bei tiefen Ohnmachtsgefühlen sein böses Haupt hebt. Es bedarf guter therapeutischer Unterstützung, um ihn auch von dort zu vertreiben.
Doch Wolfgang und Gudrun fangen immer wieder von vorn an, sie geben nicht auf, und sie kommen immer ein kleines Stückchen weiter. Sie klagen nicht, sie wirken zufrieden. Ein Paar, das an der Armutsgrenze lebt, das kaum etwas besitzt.
Aber sich.
NACHWORT
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E s ist fast ein Wunder, dass die Sektensiedlung Colonia Dignidad ohne gewaltige Explosion oder befohlenen Selbstmord abzusterben scheint – not with a bang, but with a whimper – nicht mit einem Knall oder einem angeordneten Selbstmord, sondern mit einem Wimmern. 85
Etwa 150 Menschen leben noch auf dem Fundo , wie sie ihre Kolonie nennen. Täter, Opfer, Mitläufer nebeneinander. Miteinander. Sie alle sehen sich als Opfer. Doch manche der deutschen Kolonisten waren mehr als nur willige Helfer. Einige waren mit Leidenschaft bei der Sache. Davon spürt man nichts, wenn der alte Kurt Schnellenkamp in »Deutsche Seelen« 86 , einem Film über die Villa Baviera ohne Paul Schäfer, im selben Ton sanfter Ahnungslosigkeit über Nazi-Deutschland spricht wie über die Verbrechen der Colonia Dignidad. Doch nicht nur Gudrun Müller erlebte die gewalttätige Seite des früheren SS -Mannes Schnellenkamp, Paul Schäfers Mann fürs Grobe seit Mitte der Fünfzigerjahre bis über Schäfers Tod hinaus.
Ein halbes Jahrhundert existiert die deutsche Siedlung in Chile nun, erst Colonia Dignidad, dann Villa Baviera genannt. Zur Feier ihres 50-jährigen Bestehens bringen die Kolonisten im Sommer 2011 eine Hochglanz-Broschüre mit vielen schönen Landschaftsaufnahmen und Farbfotos der wichtigsten Gebäude heraus:
50 Jahre Chile 1961-2011 Villa Baviera
Historisch ist das nicht korrekt, aber der 88-jährige Verfasser Johannes Wieske nimmt es nicht so genau, denn der Name Colonia Dignidad macht sich weltweit nicht mehr so gut. Wieske verfasste 1976 die erste Broschüre zum fünfzehnjährigen Bestehen der Colonia Dignidad. Ein umtriebiger alter Herr, Bauingenieur, Architekt und Statiker, wie er stolz auf der letzten Seite der Broschüre vermerkt, aus der er jovial herauslächelt, weißhaarig, mit Vollbart und kleinem Wohlstandsbäuchlein. Er stützt sich auf den Ausguss einer hölzernen Wasserpumpe, durch die das Wasser in den Trog plätschert, im Hintergrund des Fotos tanzen Männer und Frauen in Dirndl, Lederhose, weißen Kniestrümpfen und frechem Käppi vermutlich einen Schuhplattler. In der Ferne schneebedeckt die Anden.
Es fehlen weder Zippelhaus, Freihaus, Casino familiar noch Ställe, Silos, Lagerhallen, Turbinen, Mühle, Bäckerei, Steinbrechanlage, Krankenhaus. Weder Friedhof noch Oktoberfest. Auf Abbildungen von Folterkellern und Massengräbern allerdings verzichtet Johannes Wieske. Das könnte dem Tourismus schaden. Vielleicht. Wie sehr die jetzigen Bewohner auf diese Erwerbsquelle setzen, zeigt ihre Homepage 87 : Wo früher gefoltert wurde, kann man jetzt Ferien machen, Feste feiern, sogar Prachthochzeiten veranstalten. Aber dem Gedenken an die Opfer wird kein Platz eingeräumt. Warum auch? Wir sind alle Opfer, sagt die jetzige Führungsclique, und wir haben von nichts gewusst.
Ein Frösteln stellt sich ein, wenn man die Produktpalette sieht: Bierwurst, Kuchen und eine Schlachtplatte; das spanische Wort carniceria ist mit »Blutbad« übersetzt. Ein hellsichtiges Versehen des Google-Übersetzungsprogramms.
Die Liste der Verbrechen,
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