Unser Leben mit George
besuchte, war er schon sehr krank, aber immer noch auf den
Beinen. Jetzt war er zu schwach, um zu stehen oder auch nur die Augen
aufzumachen. Es war erschreckend.
Als ich klein war, war mein Vater für
mich der stärkste Mann der Welt gewesen. Er spannte die Muskeln in seinem
rechten Arm an und ließ meine Schwester und mich gleichzeitig daran schaukeln,
er konnte eine Walnuss zwischen den Fingern zerdrücken und einen Apfel mit den
bloßen Händen auseinanderbrechen, und wir staunten. Aber bei aller Kraft hatte
er ein weiches Herz und den Charakter eines Gentleman, außerdem war er ein
äußerst großzügiger Mensch. Er war der Sohn eines Gemüsehändlers aus dem
Londoner East End und hatte sich als junger Mann aus der Armut hochgearbeitet
und sich gebildet. Und er hatte uns, seiner Familie, alles das gegeben, was er
selbst als Kind entbehrt hatte. Ich war seine Jüngste, und er hatte mich maßlos
verwöhnt.
Während der letzten Monate hatten mein
Vater und Udi sich am Telefon oft darüber lustig gemacht, wer zuerst durchs
Ziel gehen würde, und schließlich hatte Udi ihn um eine Nasenlänge geschlagen.
Im Laufe der Jahre hatte mein Vater seinen Schwiegersohn sehr lieb gewonnen. Er
hatte ihm Dinge aus seinem früheren Leben anvertraut, die er noch nie jemandem
erzählt hatte. Er war tieftraurig über Udis Tod und machte sich große Sorgen um
meine und Joshuas Zukunft. Jetzt saß ich an seinem Bett, hielt seine Hand und
versuchte, ihn zu beruhigen.
Als hätte er nur darauf gewartet, von
seinen Töchtern und Enkeln Abschied zu nehmen, starb mein Vater weniger als
vierundzwanzig Stunden später, nachdem wir in Frankreich angekommen waren.
Verständlicherweise war Joshua schrecklich verängstigt über diesen zweiten Tod,
nur elf Tage nachdem er seinen Vater verloren hatte. »Alle Männer in unserer
Familie sterben«, sagte er ganz verzweifelt. Er hatte Angst, dass er der
nächste sein würde.
Wir flogen mit dem Leichnam meines
Vaters nach England zurück, und einen Tag später saßen wir wieder im
Krematorium von Golders Green, zum zweiten Mal in vierzehn Tagen. Da viele
unserer Freunde und Verwandten wieder da waren, schien es mir fast wie eine
Wiederholung von Udis Trauerfeier.
Es war ein grausamer Zufall, dass
gerade in dieser Woche alle Schaufenster zum Vatertag geschmückt waren, überall
sah man Poster, Banner und Vatertagskarten. Ich versuchte, so gut es ging,
Joshua daran vorbeizulotsen und selbst ebenfalls nicht hinzusehen, aber es war
unmöglich, es völlig zu ignorieren. Es war jedes Mal, als würde Salz in eine
offene Wunde gestreut. Ich war verzweifelt. Wenn ich allein in unserem
Schlafzimmer war, öffnete ich Udis Schrank und starrte blind auf die säuberlich
aufgehängten Hemden und Hosen, die plötzlich nichts weiter als schlaffe,
nutzlose Hüllen waren. Ich steckte die Hände in die Schuhe, die noch die
Abdrücke von Udis Füßen trugen, und vergrub mein Gesicht in den Jacketts, die
er nie mehr tragen würde. Sie rochen nach seiner Körperwärme, nach Tabakrauch,
nach ihm.
3.
Kapitel
Nach den beiden Beisetzungen wurstelte ich mich irgendwie durch
den Juli und August, genau wie ich mich durch das ganze vergangene Jahr
gewurstelt hatte, mit der Unterstützung des wunderbaren Netzwerks meiner
Verwandten und Freunde. Wie meine Mutter, meine beiden Tanten, meine Großmutter
und meine Großtante war auch ich jetzt Witwe — ein schreckliches Wort, bei dem
ich an einsame, Pullover strickende alte Frauen im Schaukelstuhl denken muss,
warum weiß ich nicht, denn keine von ihnen gehörte im Entferntesten zu diesem
Typ. Aber mit Mitte vierzig wollte ich kein Mitglied dieser Schwesternschaft
von Witwen werden und sträubte mich gegen ihre Solidarität.
Wie sehr man auch glaubt, sich
innerlich darauf eingestellt zu haben — nichts kann einen auf den Verlust eines
geliebten Menschen wirklich vorbereiten. Man muss einfach jeden Tag leben, wie
er kommt, und versuchen, irgendwie damit fertig zu werden. Und wenn der Mensch,
der gestorben ist, dein Vertrauter und bester Freund war, dann ist das
Schlimmste dabei, dass ausgerechnet der Mensch, mit dem man darüber sprechen
möchte, was man gerade durchmacht, nicht mehr da ist. Er ist nicht einmal am
Ende einer Telefonleitung. Ausgerechnet in dem Moment, wenn man ihn am
dringendsten braucht, ist er für immer verschwunden.
Nach außen hin gab ich mich ruhig und
gefasst. Innerlich aber war ich hilflos und panisch, wie ein Passagier auf
einem Schiff ohne
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