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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Volz
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großartigen Worte. Es war eine Pracht. Selbst wenn es bewölkt war, war es nicht wie in Deutschland einfach grau, sondern die Wolken kamen bedrohlich tief vom Himmel herunter und legten sich auf die Häuserdächer.
    Das Wetter in London wechselte meist rasend schnell, nicht selten regnete es noch, während gleichzeitig schon die Sonne schien. Ich achtete erstmals im Leben wirklich auf das Wetter und lernte so viel über Londons Bewohner. Denn ob die ersten Sonnenstrahlen des Jahres, Regen in Wimbledon oder der sporadische Schnee – das Wetter wird in London zelebriert.
    Schon vor vielen Tausenden Jahren lernte der Mensch, sich der Temperatur entsprechend leichter oder dicker anzuziehen. Nur in England gilt diese Regel nicht. Hier richtet man sich bei der Kleiderwahl weniger nach der Temperatur als nach dem Sonnenlicht. Je heller, desto weniger Kleidung, heißt es jedes Jahr im Frühling wieder, wenn nach den dunklen Monaten die Sonne in voller Pracht zurückkehrt. Dann strömen die Londoner in T-Shirts und kurzen Röcken ans Licht, sie sitzen in den Parks auf den Wiesen und vor den Pubs an vielbefahrenen Straßen. Es mag nur zwölf Grad haben, es mag objektiv zu frisch für kurze Ärmel sein, aber das spielt keine Rolle: Die Sonne ist da. Ihr muss gehuldigt werden. Einige Tage später mag die Temperatur auf 16 Grad steigen. Doch wenn es bewölkt ist, trägt die Mehrheit wieder Pullover und Jacken.
    Der Drang zum Sonnenlicht wird wie vieles in dieser Stadt mit einem Hang zum Extremen kultiviert. So schlägt die Hautfarbe vieler Londoner direkt von Elfenbeinweiß in Krebsrot um. Der schwierigste Beruf in dieser Stadt, in diesem Land muss der des Sonnencremevertreters sein. Da wird man gar nichts los.
    Nur in zwei Wochen im Juni wartet die Stadt der Sonnenanbeter plötzlich sehnsüchtig auf Regen. Denn beim Tennisturnier von Wimbledon sind die Regenpausen Teil des Spektakels, eine unabdingbare Tradition in einem Land mit scharfem Sinn für Geschichte. Glücklich ziehen die Zuschauer dann ihre durchsichtigen Plastikponchos über. Jetzt haben sie etwas zu erzählen, wenn sie nach Hause kommen: Ich war da, als es in Wimbledon regnete. Der Stadionsprecher kündigt an, das Spiel werde wegen des Wolkenbruchs für eine halbe Stunde unterbrochen, dann noch um eine halbe Stunde und noch einmal. Weil es sonst nichts zu tun gibt, haben Hunderte Zuschauer dieselbe Idee: auf die Toilette zu gehen. Ist das nicht wunderbar? So entsteht noch so eine große britische Tradition: Man kann in der Schlange stehen.
    Auch das Fernsehen begeht die traditionelle Wimbledon-Regenpause mit der angemessenen Würde. Es zeigt alte Klassiker, Björn Borg, Jimmy Connors, Boris Becker, längst gibt es in England, dem Land der merkwürdigen Sammelleidenschaften, Studenten, die jedes Jahr Wimbledon schauen, um sagen zu können: zum zwölften Mal Borg gegen McEnroe 1980 gesehen.
    Mit ernster Stimme beruft sich der Tenniskommentator schließlich auf den Kollegen vom Wetter, der ihm gerade gesagt habe, höchstwahrscheinlich treibe ein Südostwind niedriger Geschwindigkeit die Regenwolken in der nächsten Viertelstunde davon, und eine Viertelstunde später verkündet der Kommentator mit derselben ungerührten Stimme, das Spiel sei nun wegen der anhaltenden Schauer auf den nächsten Tag verschoben worden. Im Stadion machen sich die zu riesigen durchsichtigen Plastiktüten mutierten Zuschauer lachend und freundlich plaudernd auf den Nachhauseweg.
    Doch 2009, im 132. Jahr der Offenen Tennismeisterschaften von England, verloren die Traditionalisten und Romantiker den Kampf gegen die Pragmatiker. Der Center Court hatte ein Dach erhalten. «So oft konnten wir nur herumhängen und warten, weil es regnete», sagte die Nummer 1 der Welt, der Schweizer Roger Federer. «Ich weiß, der Regen konnte auch ein Spaß sein, doch ich denke, nach ein paar Tagen wollen Tenniszuschauer dann auch mal ein Tennisspiel sehen. Von daher hat Wimbledon mit dem Dach einen Schritt in die richtige Richtung unternommen.» Aber was versteht Federer schon vom Regen? Ein Mann, der in Dubai, in der arabischen Wüste lebt!
    Was den Schnee betrifft, so musste ich einige Jahre warten, bis ich erleben durfte, mit welchen Ritualen sich London ihm hingibt. Es schneit nur alle paar Winter einmal. Ich war schon 18, hatte gerade das Autofahren gelernt und wurde eines Morgens beim Training wie die ganze Stadt von den Schneeflocken überrascht. Denn London ist nie auf Schnee vorbereitet, diese Panik

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