Unsere Oma
Lehrer entsetzt. »Ihr lebt vier Wochen lang in der großen Stadt und kennt sie gar nicht?«
»Wenn sie den Zoo kennen, ist es doch genug«, brummte Onkel Ludi.
Der Vater schüttelte den Kopf. »Unser Zug geht erst morgen nachmittag, da können wir uns am Vormittag noch alles anschauen.«
»Am letzten Tag willst du mir die Kinder wegnehmen?« knurrte Onkel Ludi unwirsch.
»Ich muß morgen früh noch die Kaninchenställe ausmisten«, sagte Brigitte.
»Morgen kommt der Zahnarzt zum Elefanten, da darf ich zuschauen«, fiel Jan ein.
»Ich muß auch dabei sein«, rief Peter, »sonst steht er nicht still.«
»Und du, Ingeborg, wirst du mit mir kommen?« fragte der Lehrer.
»Ja, gern, aber...« Ingeborg errötete und blickte hilfeflehend den Onkel an.
Onkel Ludi räusperte sich. »Hör zu, Neffe, ich habe eine große Bitte an dich. Laß mir Ingeborg hier!«
»Unsere Ingeborg? Soll sie dir den Haushalt führen? Ich denke, deine Haushälterin kommt morgen zurück.«
Der Onkel schüttelte den Kopf. »Für den Haushalt brauche ich sie nicht. Ich möchte gern, daß sie Tiermedizin studiert. Ingeborg hat ihr Abitur. Sie ist klug und versteht besonders gut mit Tieren umzugehen. Ohne sie hätten wir den Schimpansen nicht durchgebracht.«
»Ich habe kein Geld, sie studieren zu lassen«, sagte der Lehrer ärgerlich.
»Nicht nötig«, erwiderte der Onkel. »Das Studium bezahle ich. Ich habe keine Kinder. Was soll ich sonst mit meinem Geld anfangen? Du tust mir einen großen Gefallen, wenn du sie Tierärztin werden läßt.«
»Ingeborg, willst du denn wirklich hierbleiben?« fragte der Vater seufzend.
Ingeborg brach in Tränen aus.
»Hör mal zu«, sagte Oma ärgerlich, »bis jetzt ist das Kind nur immer für die Familie dagewesen. Sie muß endlich ihr eigenes Leben anfangen. Sie hat eine große Begabung, mit Tieren umzugehen. Wenn sie daraus einen Beruf machen kann, ist es ein Gottesgeschenk, das man ihr nicht nehmen darf.«
»Möchtest du es denn so gern, Ingeborg?« fragte der Vater.
Ingeborg nickte unter Tränen.
»Dann wünsche ich dir für deine Pläne viel Glück, mein Kind!«
Mit einem kleinen Jubelschrei fiel Ingeborg ihrem Vater um den Hals.
Am nächsten Nachmittag brachten Ingeborg und Onkel Ludi die andern zur Bahn.
Auf dem Bahnsteig zog Onkel Ludi seinen Neffen beiseite. »Ich habe noch eine Bitte.«
»Willst du vielleicht auch noch die Oma hierbehalten?« fragte der Lehrer besorgt.
Der Onkel schüttelte den Kopf. »Nein! Vier Wochen hatte ich sie sehr gern um mich, aber für immer ist sie mir zu aufregend. Ich habe eine andere Bitte. Schick mir deine Kinder bald wieder.«
Als der Zug sich in Bewegung setzte, winkten alle und riefen: »Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn!«
Dann richteten sich Pieselangs in ihrem Abteil ein. Brigitte nahm ihr Kaninchen auf den Schoß, und Jan holte die Schildkröte aus seinem Rucksack. Oma stellte den Käfig mit Paulchen neben sich auf die Bank. Peter hatte auf jeder Hand eine Maus.
Der Lehrer betrachtete seine Familie etwas sorgenvoll. »Was wird Mutter nur sagen, wenn wir ohne Ingeborg und mit all dem Viehzeug heimkommen? Niemand wird ihr nun im Haushalt helfen, das Kaninchen wird den Salat im Garten fressen, Peter wird heulen, weil Omas Kater seine Mäuse verspeisen will, und über die Schildkröte werden wir alle stolpern.«
»Nichts davon wird geschehen«, sagte Oma. »Wir alle werden Mutter im Haushalt helfen. Niemand wird niemanden auffressen. Alles wird gut gehen, wenn wir einander liebhaben und Rücksicht aufeinander nehmen.«
Liebevoll schaute sie alle der Reihe nach über ihre Brille hinweg an, den Vater, die Kinder und die Tiere.
Von Ilse Kleberger
Otto Maier Verlag Ravensburg
Weitere Bände von Ilse Kleberger in den Ravensburger Taschenbüchern:
Ferien mit Oma (Band 254)
Villa Oma (Band 351)
Erstmals 1970 in den Ravensburger Taschenbüchern
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Erika Klopp Verlages, Berlin
© 1964 by Erika Klopp Verlag
Umschlagentwurf von Rolf Rettich
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch Otto Maier Verlag Ravensburg
Gesamtherstellung: Ebner Ulm
Printed in Germany
14 13 81 80
ISBN 3-473-39166-2
Ferien mit Oma von Ilse Kleberger
»Ferien mit Oma?« meint Brigittes Freundin. »Und dann nur in Deutschland? War das nicht schrecklich langweilig?«
»Langweilig? Unsre Oma hatte eine tolle Idee. Du ahnst ja nicht, was wir alles erlebt haben!«
»Wir haben ein Ameisenhochhaus gesehen«, ruft Jan, »und viele Sterne -
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