Unsichtbare Blicke
gegangen waren, dann sollte er den Rucksack nehmen, nicht die violette Umhängetasche mit dem Vogel darauf, auf die alle neidisch waren. Sie würde auffallen, daran würde man sich vielleicht erinnern.
Den langen Weg hinter den Dünen hatte er genommen, mit einem Handtuch, das er sich über die Schulter geworfen hatte, weil es aussehen sollte, als ginge er zum Baden. Seine kurze blaue Hose von den Pionieren, das Hemd mit dem Halstuch, alles war sehr ordentlich, wie es sich gehörte, auch wenn der Gruppenleiter ihn überraschte, konnte er nicht meckern. Nur die Schuhe hatte er ausgezogen, weil er mit nackten Füßen im Sand viel besser vorwärts kam. Die Sandkörner kitzelten so schön zwischen den Zehen. Sand war schön. Das Meer war noch schöner, auch wenn es heute nach toten Fischen gerochen hatte und man erst über den grünen Algenmatsch hüpfen musste, bevor man ins Wasser kam.
Seine Muscheln.
Sie waren alle in der Umhängetasche, aber das war auch egal, sie hatten ihm ja doch alles abgenommen. Ronnie würde darauf aufpassen, auf den konnte er sich verlassen, vielleicht könnte er auch zu Ronnie ziehen, bis alles geklärt war, die Eltern würden bestimmt zurückkommen, wenn sie merkten, dass er hochgegangen war.
Ein Mann kam rein. Er stellte ein Glas Wasser hin, direkt vor seine Augen auf den Aktenschrank, der ihm im Sitzen gerade bis über den Kopf reichte. Er schaute durch das Wasser. Das Glas hatte weiße Flecken, und im Wasser schwamm ein Fussel. Der Mann sah lustig aus durch das Wasser, ganz lang und dünn, und der Kopf war nur ein Strich.
Der Mann zeigte mit dem Finger auf das Glas. «Trink schon», sagte er.
Können alle nur zwei Worte, dachte er. Frau Thulheim sagte immer, sie sollten in ganzen Sätzen sprechen.
«Was ist mit dem? Kleinsdorff?», fragte der Mann, und die Frau nickte, und der Mann zuckte mit den Schultern und ging raus. Er hörte, dass der Mann noch «Scheiße» sagte, bevor die Tür ins Schloss fiel.
Tack Tack Tick Tack Tick Tick.
Die Frau konnte nicht gut schreiben auf ihrer Schreibmaschine. Aber sie musste auch immer die Kästchen treffen, in die sie seinen Namen und seinen Geburtstag und alles eintrug. Er hatte ihr alles falsch gesagt.
Bei dem Gedanken musste er grinsen.
Sie hatte nichts gemerkt und
THOMAS
eingetragen, in großen Buchstaben. Tick Tick Tack Tick Tack Tack. Vielleicht konnte er noch abhauen. Da war es besser, wenn sie seinen Namen nicht kannten, wenn sie dachten, er heißt Thomas. Tommi, vielleicht konnte er sich wirklich Tommi nennen. Er wollte schon immer einen Spitznamen haben.
8
Stella van Wahden spürte zwei kräftige Hände an ihren Schultern; jemand rüttelte das, was einmal ihr Körper gewesen war. Lass es einen Traum sein, wünschte sie sich, ein Engel, ja, das wäre schön, ein Engel mit kräftigen Händen, einer, der sie und vor allem ihren dicken Kopf davontrug.
Etwas tropfte auf Stellas Wange. Apfel. Und Chemie. Sie linste durch den halben Millimeter, den sich ihr rechtes Auge öffnen ließ. Wasser tropfte aus den langen blonden Haaren des Engels, der behauptete, jemand habe vor einer Viertelstunde mit ihr telefoniert.
Das konnte nicht sein, ihr Zustand ließ keine Telefonate zu.
«Mama, wach auf!», sagte das Wesen und rüttelte wieder.
«Och, Engelchen», krächzte sie und hob die Hand, um durch die blonden Haare zu streichen, die nach Apfelshampoo rochen.
«Sag nicht Engelchen, Mama. Und steh auf. Muschmuschi sitzt in der Küche.»
Stella grunzte, dann wälzte sie sich auf die rechte Seite; das Diensthandy kam unter ihr zum Vorschein. Vielleicht hatte sie doch telefoniert? Langsam drangen erste Erinnerungen an den Abend zu ihr durch. Flughafen. Mallorca. Morten wollte für eine Woche an den Ballermann. Und die Party! Deshalb war ihr Sohn aus Berlin gekommen. Sie beobachtete, wie Morten leere Bierflaschen zur Seite schob. Er trug nur ein Handtuch um die Hüften. Sein Rücken schimmerte feucht.
Obwohl sie fast die ganze Nacht Mortens bestandene Aufnahme an der Ernst-Busch-Schauspielschule gefeiert hatten, war er hellwach, bereits geduscht, und er sah aus wie ein junger Gott. Stella war ungefähr doppelt so alt wie er, fühlte sich aber wie seine Großmutter.
Ein paar Kumpels aus Mortens Schulzeit, deren Kumpels und die Kumpels der Kumpel und der gesamte weibliche Anhang hatten die Wohnung im dritten Stock bevölkert. Es war eine gute Party gewesen, und doch schämte sie sich.
Zwei Jahre und acht Monate hatte sie im
Weitere Kostenlose Bücher