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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Kriminaldauerdienst erlebt, was Alkohol aus Menschen machte, und in ihrem Elternhaus waren die Erfahrungen damit nicht besser gewesen. Sie sollte nicht solche Partys feiern. Jedenfalls nicht mit ihrem Sohn.
    Eine halbleere Bierflasche fiel um und ergoss ihren gelbbraunen Inhalt auf die Holzdielen.
    «Shit», zischte Morten. Er zerrte das Handtuch von den Hüften, besann sich aber eines Besseren und warf es nicht auf die Pfütze.
    «Frau Ellscheidt kommt heute», beruhigte Stella ihn.
    Seit Kramer ausgezogen war, hatte sich in der Wohnung nicht viel verändert. Obwohl, wie Stella es ausdrückte, alles im besten Einvernehmen abgewickelt worden war, lebte sie nun seit fast einem Jahr in einer halben Einrichtung.
    Halbe Einrichtung, weniger als ein halbes Leben, dafür anderthalb oder mehr Beruf. Eigentlich verhinderte nur Frau Ellscheidt die totale Verwahrlosung.
    Stella hatte es Morten freigestellt, ob er mit Kramer gehen oder bei ihr bleiben wollte. Ihr war damals ein leises «Oh!» herausgerutscht, mehr nicht, als Morten sich gegen sie entschieden hatte. Und natürlich hatte sie zu ihrem Wort gestanden. Kramer war nie nur ein Stiefvater für Morten gewesen. Eine Zeitlang hatte Stella sich eingeredet, es habe daran gelegen, dass Kramer ihm angeboten hatte, ihn mit nach Berlin zu nehmen.
    «Ich klebe nicht wie du an Köln, Mama. In Berlin spielt die Musik, verstehst du, Berlin ist wieder fast so cool wie in den zwanziger Jahren.»
    Sie hatte ihn ziehen lassen. Früher oder später wäre es sowieso so weit gewesen.
    Sie genoss es, dass er nun bis zum Herbst bei ihr wohnen würde. Er hatte einen schlecht bezahlten Job bei einer Filmproduktionsfirma im benachbarten Hürth angenommen, von dem er sich erste Kontakte für eine vage Zukunft in der Glamourwelt erhoffte. Tatsächlich schleppte er Scheinwerfer durch die Gegend und kochte Kaffee für Typen, die kaum älter als er waren.
    «Kann ich helfen?», tönte es aus dem Nebenzimmer.
    Ein Stuhl wurde über die Fliesen gerückt. Erst jetzt wurde Stella bewusst, dass sie nicht allein in der Wohnung waren. Miki Saito. Nebenan. In der Küche. Wahrscheinlich wie aus dem Ei gepellt. Wie immer. Und sie erinnerte sich nun auch, dass er vor einer unbestimmten Zeit angerufen und sie vorgewarnt hatte.
    «Halt ihn auf», ächzte Stella. «Sonst verliert er jeglichen Respekt vor seiner Chefin.»
    «Hatte er den jemals?», fragte Morten und flitzte raus.
    «Kleine Feier, gestern», hörte sie ihren Sohn sagen, «Sie können vielleicht schon mal einen Kaffee kochen. Wenn welcher da ist.»
    Durch die hohen Fenster und die Glastür im Erker fielen nur ein paar verwaschene Vorboten des Lichts. Es war eindeutig keine Nacht mehr, aber als Tag konnte man es auch noch nicht bezeichnen. Stella machte einen ersten Gehversuch und stellte fest, dass es besser funktionierte als erwartet. Sie tapste durch die Flügeltür aus dem Salon, wie ihr Vater den Raum mit dem Marmorkamin und den üppigen Stuckaturen genannt hatte, ins Esszimmer, nahm einen Schluck abgestandenes Wasser aus einer offenen Flasche und versuchte, sich ins Bad zu schleichen.
    Vor der Küchentür hielt sie inne.
    «Übrigens heiße ich Saito, Miki Saito», sagte ihr Kollege zu Morten. Dabei wedelte er einen Fussel vom Ärmel seines schwarzen Jacketts. «Obwohl ich
Muschmuschi
auch nicht schlecht finde.»
    «Oh, sorry, verdammt …» Morten hob entschuldigend beide Arme.
    «Ich werde dafür bezahlt, große und kleine Geheimnisse herauszufinden, und dieser Spitzname ist eher ein kleines Geheimnis», antwortete Miki.
    Stella konnte, obwohl er ihr den Rücken zuwandte, das spöttische Grinsen in seinem Gesicht erahnen.
    Die Haare des Japaners standen schnurgerade in die Höhe, nadelspitz, von stahlhartem Gel gehalten. Sie schimmerten wie schwarze Seide. Über den Ohren waren sie perfekt auf höchstens zwei Millimeter gestutzt, sodass die Koteletten ohne Übergang in einer fingerbreiten Linie auf die ansonsten blitzblanken Wangen liefen, kantige Wangen, die ganz im Kontrast zu dem manchmal verschleierten Blick seiner hellbraunen Augen standen. Er habe etwas von einem Ninja, fand Vögelchen, die Sekretärin des leitenden Kriminaldirektors, angeblich konnte er auch kämpfen wie ein solcher, allerdings hatte Stella das noch nie erlebt.
    Über seine Schulter hinweg sah Stella die alte Bahnhofsuhr, die sie vor vielen Jahren in einem Provinzkaff hatte mitgehen lassen; der Zeiger klackte auf zehn Minuten vor fünf, und dieser Mann stand da, als

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