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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Teppich von irgendeiner Preisverleihung gelatscht war. Er musste Tschelcher sagen, dass er nicht mehr mitmachen konnte. Er hatte von diesem ganzen Gute-Menschen-Mist sowieso die Nase voll.
    Während er die Aufnahme der vergangenen Nacht durchspulte, behielt er die Direktübertragung aus dem Augenwinkel im Blick. Auf dem Band war nichts zu sehen, ein waberndes Nichts, mattschwarze Ahnungen, nur ganz am rechten Rand des Bildausschnitts schimmerte in den Nachtstunden die einzige Lichtquelle; sie gehörte zu dem albernen Wecker, von dem sie sonst morgens geweckt wurde. Sie war noch nicht aufgestanden. Meistens schlief sie wie ein Stein.
    In wenigen Minuten würde er jedoch belohnt werden.
    Der Blickwinkel der Kamera reichte nicht sehr weit: der Nachttisch, ein kleines Eckchen des Kopfteils und, wenn sie sich im Schlaf sehr weit auf die linke Seite gerollt hatte, auch eine Ahnung ihrer Haare, ein rostroter Wuschel, der sich in alle Richtungen auf dem Kopfkissen mit den Gänseblümchen ausbreitete.
    Wieder vermochte er ein Kichern nicht zu unterdrücken. Gänseblümchenbettwäsche. Er musste sie besorgen.
    Er konnte sich genau vorstellen, wie sie über eine solche Wiese hüpfte, an seiner Hand, als kleines Mädchen, vielleicht mit fünf oder sechs, ein schöner Gedanke, der ihn für den Stress in der Nacht, die lange Autofahrt vom Einsatzort zurück, entschädigte.
    Wie Josie wohl vor zehn Jahren ausgesehen hatte? Es fanden sich fast gar keine Fotos auf ihrer Festplatte, aus der Vergangenheit schon gar nicht. Heutzutage hatten die Mädchen Hunderte, Tausende von Dateien.
    Celine hatte fast ein Gigabyte Bilddateien gehabt. Immer wieder Variationen eines Motivs, Freundinnen, Wange an Wange, Cheeeese.
    Ob Josie schon immer so ein schmales Ding gewesen war, mit diesen widerspenstigen roten Haaren? Sie war bestimmt gehänselt worden, das hätte er nicht zugelassen, er wäre eingeschritten.
    Und er hätte ihr gezeigt, wie man einen Kranz aus Gänseblümchen windet.
    Er war gespannt, was sie heute anzog.
    Der Vogel auf dem Wecker in Josies Zimmer bewegte sich. Im selben Augenblick zwitscherte es direkt neben ihm auf dem Schreibtisch. Er hatte das gleiche Modell besorgt. Auf dem Bildschirm beobachtete er, wie ihre Hand auf dem Nachttisch auftauchte, sie tastete nach dem Schalter, drückte und beendete das Geplärre. Er schaltete den Wecker neben sich ebenfalls aus.
    Josies Gesicht, es verschwand noch hinter der zauseligen Gardine ihrer Haare, erschien im Bildausschnitt der Kamera, sie kontrollierte die Uhrzeit.
    «Josie, Josie», summte er, «es ist so weit.»
    Vielleicht setzte sie sich noch ein, zwei Minuten auf die Bettkante, weit oben, direkt neben dem Nachttisch, manchmal tat sie es, dann hatte er sie voll im Bild, er liebte es, wenn sie dort sitzend vor sich hin starrte, mit weit aufgerissenen Augen. Sie wirkte so unverstellt in diesem Moment, vielleicht wartete sie darauf, dass der Rest eines Traums verklang; oder ihr Kreislauf brauchte morgens länger, dafür sprach, dass sie die ersten Schritte fast durchs Zimmer torkelte.
    Sie trug das grüne oder blaue T-Shirt, er konnte die Farbe nicht gut unterscheiden, verdammt, sie brauchte eine bessere Cam, das stand fest. An der Schulter klaffte ein kleiner Riss, den sie flicken sollte, aber sie tat es nicht. Es war wohl ein Lieblings-T-Shirt, vielleicht, weil es ihr fast bis zu den Knien reichte.
    Sie reckte sich, stellte sich dazu auf die Zehenspitzen und drückte die Arme mit verschränkten Händen über ihrem Kopf weit nach oben, ja feste, jede Faser anspannen, dann den Oberkörper sacken lassen, die Arme baumelten bis zum Boden und ein paar Riffs auf der Luftgitarre, er liebte das, so verspielt.
    Sie blickte ihn an.
    Zwei Schritte zu ihrem Schreibtisch.
    Sie blickte ihn an.
    Seine rechte Hand zitterte, er konnte die Maus kaum ruhig halten. Wie ein Froschauge verzerrte die Optik der Webcam ihre Miene, so nah kam sie der Kamera. Ihre etwas zu buschigen Augenbrauen, die Schwingen eines struppigen Vogels, gebogen mit einem leichten Schwung nach oben, die Nase so nah, dass sie zu einem konturlosen Knubbel verschwamm. Das Gesicht füllte den kompletten Bildschirm aus, unwillkürlich schreckte er zurück und schob den Schreibtischstuhl ebenfalls ein paar Zentimeter in den Raum, dann entfernte sie sich jedoch wieder von dem Objektiv, um die kleine Spange vom Gehäuse des Monitors zu lösen, ihm wurde fast schwindelig, als das drehende, wackelnde Bild sich verzerrte, ganz nah an ihr

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