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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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T-Shirt wanderte, ihre Hände, unscharf alles, ihre Handlinien, zucken, sie flitschte mit dem Zeigefinger gegen das Plastik, drei-, viermal.
    Gleich würde sie merken, dass es kein Wackelkontakt an der Lampe der Cam war, die immer leuchtete, wenn das Gerät genutzt wurde.
    Sie legte die Kamera auf den Tisch.
    Er starrte jetzt den Deckel eines Schulbuchs an, verschwommen zeichnete sich das Bild eines Waldes ab, Birken, es waren Birken,
Fundamente
, konnte er entziffern, Geographie Oberstufe.
    Sie hatte seine Blicke gespürt. Er loggte sich aus.

10
    Stella spielte nicht gerne die Beifahrerin, aber mit ziemlicher Sicherheit hatte ihr Blut den Restalkohol noch nicht ordentlich verdünnt. Saitos Fahrstil beruhigte ihre Eingeweide allerdings nicht gerade. Sie schob sich eines der scharfen Minzbonbons, die sie im Handschuhfach gefunden hatte, in den Mund, obwohl sie wusste, wie rebellisch ihr Magen darauf reagierte. Besser als eine Fahne, dachte sie.
    Die heruntergekommene Fabrikhalle lag am Rande eines Gewerbegebiets, das zur Zeit der industriellen Revolution den Menschen eine Menge versprochen und davon in den vergangenen hundertzwanzig Jahren weniger und weniger gehalten hatte. Den Giebel des Backsteingebäudes zierte ein Wappen, Hohenzollern oder Ähnliches, Stella war eine Niete in Geschichte gewesen, aber sie lag halbwegs richtig: Die stolze Widmung unter dem aus Stein gemeißelten Vogel verwies darauf, dass die Fabrik irgendeinem Mitglied der kaiserlichen Familie gewidmet und im Jahr 1907 erbaut worden war. Die Jungs aus der Gegend hatten sich mit Steinen an den Fenstern der vorderen Front ausgetobt.
    Beim Betreten der Halle über eine der Laderampen stockte Stella kurz der Atem. «Das ist …» Sie suchte nach dem richtigen Wort, aber ihr Partner nahm es vorweg.
    «Surreal», murmelte Saito.
    Eine Gänsehaut fuhr Stella den Rücken hinab, als sie die überlebensgroßen Gestalten sah, die die seitlichen Wände bis knapp unter das Dachgewölbe bedeckten. Fast alle trugen kunstvoll gesprayte Kutten oder waren in Stoffbahnen drapiert, die ihre Körper umwallten. Wenige saßen oder lagen, die meisten hatte die Handflächen wie zum Gebet vor der Brust aufeinandergelegt.
    Die Sprayer hatten die Emporen, die wie die Reste eines eisernen Gerippes die seitlichen Mauern umzogen, genutzt, um ihre Bilder über eine Höhe von mindestens fünfzehn Metern zu ziehen. Wie sie die oberen drei oder vier Meter erreicht hatten, war Stella schleierhaft.
    «Da oben müssen sie mit Klettergurten gearbeitet haben», sagte Saito, der ihre Gedanken zu erraten schien.
    Stella mochte das. So unterschiedlich sie und ihr Partner waren – irgendetwas verband sie miteinander. Sie sendeten oft auf einer Frequenz, ohne die Dinge aussprechen zu müssen.
    Obwohl das Gebäude so heruntergekommen war, erinnerte alles an eine Kathedrale. Den Eindruck verstärkten die Kollegen der Spurensicherung.
    Sie bewegten sich in ihren weißen Ganzkörperanzügen mit der gewohnten Vorsicht zwischen den Stahlträgern, ein paar Brandöfen, einem Skelett, das wohl mal ein Förderband gewesen war, hin und her, wie Hohepriester eines Kultes; es hatte etwas von einem Tanz in Zeitlupe, der immer wieder eingefroren wurde, wenn das Blitzlicht des Polizeifotografen aufflammte.
    Obwohl so viele Menschen daran beteiligt waren, lag Stille über der Szenerie, ein Knistern hier, eine geflüsterte Anweisung da. In der direkten Verlängerung der Linie zwischen dem Eingangstor, an dem Stella verharrte, und einem Kreis, den zwei grelle Scheinwerfer auf mannshohen Stativen ausleuchteten, schimmerte eine zentrale Figur der Wandmalereien. Die Schemen gewannen immer nur für den Bruchteil einer Sekunde Konturen, wenn der Fotograf abdrückte. Ein muskulöser Jüngling an einem Pfahl, durchbohrt von Pfeilen, aus vielen Wunden blutend.
    Im ersten Moment erschrak Stella, weil das Gemälde sie an Morten erinnerte. Er hätte das Modell sein können, nach dem der Künstler sein Werk geschaffen hatte; besonders die lockigen Haare verstärkten diesen Eindruck.
    Im Mittelpunkt der Zeremonie, die sich vor Stellas Augen abspielte und die sie von einigen Mordfällen kannte, lag die Leiche eines Mädchens, fast genau im Zentrum. Um sie herum hatte der Täter eine kreisrunde Fläche von dem Unrat gesäubert, der ansonsten den Boden überall bedeckte.
    «Heilige», begrüßte Stella ein knorriger Typ, der sich offensichtlich keinerlei Mühe machte, seiner Umwelt ein besonderes Interesse an seinem

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