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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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es Probleme?
oder
Musstest du länger arbeiten
? wären die normalen Fragen gewesen, besorgte Fragen, die Väter ihren Töchtern stellten, wenn sie mitten in der Nacht vor der Haustür standen, die verriegelt war, in deren Schloss der Schlüssel steckte, von innen.
    Wahrscheinlich hatte er seit einer knappen Stunde im Flur vor meiner Zimmertür gestanden und gewartet. In der Dunkelheit. Er hatte sich nicht auf die Stufen der Holztreppe gesetzt, sich nicht den kleinen Hocker aus Mamas Bügelzimmer geholt, sich nicht einmal an die Wand gelehnt.
    Kerzengerade stand mein Vater bei solchen Gelegenheiten. Er rührte sich kaum. Er hatte sich unter Kontrolle, bis auf eine winzige Ausnahme: Die Finger seiner linken Hand spielten am Saum des Pullovers oder am Reißverschluss der Strickweste oder im Sommer an den unteren Knöpfen der Hemden, die er fast immer trug – weiße an Sonn- und Feiertagen und zu besonderen Anlässen, sonst karierte aus Flanell. Das Gefummel erzeugte ein schabendes Geräusch.
    Jetzt versperrte er mir den Weg. Natürlich würde er mir nicht den Zutritt zum Haus verweigern, ganz im Gegenteil, am liebsten würde er mich drinnen einsperren.
    Seine verbohrte Art lag wie ein dumpfer schwerer Schleier über dem Haus, über Mama, über allem, was er tat, was er anfasste, was er sagte. Wenn ich ins Haus wollte, musste ich mich an ihm vorbeischieben, sein süßliches Rasierwasser riechen, den knochigen Ellbogen an meiner Brust spüren, wenn er keinen Millimeter zur Seite trat. Hätte er mich nur einmal betatscht, wäre alles klar gewesen, ich hätte ihm das Leben zur Hölle gemacht, aber so war es nicht, nie gewesen.
    Horst Sonnleitner war einer der wenigen Menschen, der wenigen Männer, dem man hundertprozentig glauben konnte, was er sagte. Ganz sicher regte sich in keiner Zelle dieses Mannes irgendetwas Unanständiges, nicht einmal der entfernte Gedanke daran, seine Tochter könnte etwas anderes sein als ein Wesen, das vor der Welt da draußen geschützt werden musste.
    «Warum tust du uns das an, Josie?»
    «Ich tue euch nichts an.»
    «Die Erlaubnis, diese Stellung anzunehmen, war an eine Auflage geknüpft.» Er klang, als verlese er das Protokoll der letzten Sitzung des Kirchenbeirats.
    «Frau Sudermann ist gestorben.»
    Ich hätte ihm einfach sagen können, wie es war. Der Bus, ein Unfall, zu Fuß gegangen. Mit Felix Diuso.
    Das wäre das Ende gewesen.
    Er legte die Stirn in Falten. Einen kurzen Augenblick dachte er nach. «Das ist keine Entschuldigung.»
    Kein
du hättest anrufen können
oder
deine Mutter kommt eines Tages um vor Sorge
folgte auf diesen Satz. Er meinte es genau so, wie er es gesagt hatte. Das war keine Entschuldigung. Der Tod war keine Entschuldigung dafür, wenn man Regeln brach. Regeln waren wichtiger als der Tod, wichtiger als alles, wichtiger als Liebe, wichtiger als Wärme, wichtiger als Freude, wichtiger als ich.
    Bevor ich etwas erwidern konnte, knarrte die zweite Stufe der Holztreppe. Die zweite und die sechste von oben gaben diesen gequälten Ton von sich. Mama duckte sich ein wenig, um unter den Stufen, die noch eine Etage weiter hinaufführten, hindurchschauen zu können.
    «Horst?», fragte sie leise.
    Sie trug den Morgenmantel aus gelbem Frottee, den ich ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Mit einer Hand hielt sie ihn vor der Brust zusammen. Ihre Füße steckten in Filzschluffen – ebenfalls ein Weihnachtsgeschenk, im letzten Jahr. Ich sollte ihr nicht solche Sachen schenken, dachte ich, als Nächstes kam dann ein elektrischer Quirl. Sie verdiente schönen Schnickschnack, von ihrem Mann bekam sie ihn garantiert nicht.
    «Schlaf weiter, sie ist jetzt da», wimmelte mein Vater sie ab, aber sie stieg die Stufen hinab und fragte, ob ich Hunger hätte oder eine heiße Milch mit Honig wollte.
    Ja, hätte ich am liebsten gesagt, ja, Milch, heiß und mit viel Honig, Graubrot dazu, nur mit Griebenschmalz oder Butter, so wie sie es früher oft für mich gemacht hatte, wenn ich vom Spielen unten am alten Wehr gekommen und durchfroren war, vor dem Abendbrot, was schon damals ein Grund für dicke Luft war, bevor alles wirklich schwierig wurde.
    Aber das hätte sie unweigerlich in die stille Auseinandersetzung mit meinem Vater gezogen, sie zwischen die Fronten gestoßen, wo sie sich am Ende dann doch auf seine Seite schlug, schlagen musste.
    Ich schüttelte den Kopf. «Frau Sudermann ist tot», sagte ich.
    «Die mit dem Gutshof, in … in …» Sie kramte in ihrem

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