Unsterblichen 02 -Unsterblich wie ein Kuss-neu-ok-27.01.12
ungestüm durchs dichte
Buschwerk und ließ sich atemlos neben Violet auf den Baumstamm plumpsen.
Violet
war jetzt seit vier Wochen mit dem Zirkus unterwegs. Sie teilte sich eine Umkleidekabine
mit Sarah, und die junge Frau war ihr in dieser Zeit ans Herz gewachsen. Sie
fühlte sich fast, ja, verantwortlich für sie... ein lachhafter Gedanke. Wie
konnte sich eine Blinde für eine Gesunde verantwortlich fühlen?
»Welcher
Mann ist's diesmal? Und was hat er angestellt?«, fragte Violet belustigt. Sarah
war eine gutmütige, etwas blauäugige junge Frau, aber sie geizte bei den
Männern weder mit ihren Reizen, noch ließ sie es an Dramatik mangeln.
»Ach,
Violet, wenn du wüsstest, was Thomas getan hat, dann würdest du keine Witze
mehr machen!«
»Thomas?
Der Löwenbändiger?«
»Wer
sonst? Er sollte erst mal lernen, sich selbst zu zähmen, bevor er sich an die
Löwen macht«, grummelte Sarah.
Violet
beugte sich vor und nahm eine Handvoll Erde, die sie sorgfältig mit den Fingern
durchsiebte. Kleine Steinchen, Holzstückchen, alles hatte seinen eigenen,
charakteristischen Duft. Violet atmete tief ein. Sie sehnte sich nach dem Duft
der Highlands, nach Heidekraut, Moor und Wind.
Sie
waren nun seit Wochen unterwegs, immer langsam südwärts ziehend, in kleineren
und größeren Ortschaften Halt machend. Violet war es überraschend
leichtgefallen, sich im Zirkus einzugewöhnen. Dort aufzutreten unterschied sich
kaum von ihren Vorstellungen als Zigeunergeigerin. Nur die Zuschauermenge war
größer. Sie hatte an den ersten zwei Abenden die Begleitmusik für die Jongleure
und die Akrobaten gespielt. Doch dann hatten die Besitzer des Zirkus, der alte
Graham und seine Frau, entschieden, dass sie zu gut dafür sei und ihr eine
eigene Nummer gegeben. Sie hieß jetzt Lady
Violine.
Violet
fand den Namen fürchterlich. Er erinnerte sie an ihr altes Leben als Tochter
einer Lady. In diesem Leben hatte sie ihren Vater verloren und ihr Augenlicht.
»Hat
er dich nicht zufriedengestellt?«, erkundigte sich Violet, mehr um sich von
ihren düsteren Grübeleien abzulenken als aus echtem Interesse.
»Doch,
schon.« Sarah lachte. »Was das betrifft, habe ich keine Klagen, wenn du
verstehst, was ich meine.«
Violet
verstand keineswegs. Sie hatte keine Ahnung, was Sarah damit meinte. Sie selbst
war zwar schon ein-, zweimal verliebt gewesen und auch gelegentlich geküsst
worden. Aber zu mehr war es nie gekommen.
Sie
hatte lange gebraucht, bis sie ihren Geruchssinn so weit entwickelt hatte, dass
er ihr Augenlicht ersetzen konnte. Und es war ein harter, buchstäblich dorniger
Weg gewesen. Ständig war sie gestolpert oder hatte sich an scharfen
Gegenständen die Haut aufgerissen. Ihr Körper war von Prellungen, Abschürfungen
und Schnittwunden übersät gewesen. Wie konnte sie ihren Körper also einem
anderen anvertrauen, wo sie ihn doch nicht einmal selbst unter Kontrolle hatte?
Nein, der Gedanke an Intimität war ihr unmöglich gewesen.
Und
als sie dann besser zurechtkam, hatte sie einfach niemanden getroffen, auf den
sie sich hätte näher einlassen wollen. Die wahre
Leidenschaft, wie es ihre Zigeunerbrüder und -schwestern ausdrückten,
war Violet bis jetzt noch nicht begegnet. Eine der älteren Frauen, Mirela,
hatte ihr versichert, sie würde es schon merken, wenn es so weit war.
»Jetzt
komm schon, Sarah, erzähl, was passiert ist. Es wird bald dunkel, wir müssen
ins Lager zurück.«
Sarah
stieß einen tiefen Seufzer aus, der ihrem ganzen Weltschmerz Ausdruck gab, und
Violet konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Na
ja, er hat...« Sarah unterbrach sich. »He, woher weißt du, dass es dunkel
wird?«
Violet
atmete ein. Wie konnte sie der Freundin den Geruch der Dämmerung erklären? Sie
beschloss, ihr einen Teil der Wahrheit zu erzählen, etwas, das sie verstehen
konnte. »Die Vögel haben aufgehört zu zwitschern. Und wenn die Vögel sich in
ihre Nester zurückziehen, wird es Abend.«
»Ach,
ich verstehe. Das ist wirklich beeindruckend, Violet«, sagte Sarah.
»Danke«,
lächelte Violet. »Aber was war jetzt mit Thomas?«
»Er
hat Nell schöne Augen gemacht, wenn du's unbedingt wissen willst. Die
Akrobatin, du weißt schon. Ich habe ihn dabei erwischt und ihm natürlich eine
Szene gemacht. Und er hat gesagt: ›Wir sind schließlich nicht verheiratet.
Gucken wird doch noch erlaubt sein! ‹« Sarah sprang empört auf. »Ha! Ich habe
ihn natürlich auf der Stelle verlassen, ihn und seine betrügerischen Augen.
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