Unsterbliches Verlangen
alles von Ihnen?«
»Vom ersten bis zum letzten Stück.«
Was für ein stolzer Ton. Für sie war es völlig in Ordnung. Ein Künstler seines Kalibers konnte sich dieses Selbstbewusstsein leisten.
Antonia näherte sich den Regalen bis auf Armeslänge. Wie gern hätte sie die Gefäße berührt, ihre Finger über die vollen Rundungen gleiten lassen, die mattfarbigen Glasuren mit den Fingerspitzen befühlt, aber sie begnügte sich damit, alles nur anzusehen: die geschlossenen Formen, die ausladenden, flachen Schalen, die wunderbar subtilen Blau- und Grüntöne und die weichen Grautöne. »Sie verwenden ausschließlich Ascheglasuren?« Während sie das sagte, drehte sie sich um und bemerkte seinen erstaunten Blick. Mm-hmm, das hatte er ihr also nicht zugetraut. Michael Langton könnte noch die eine oder andere Überraschung ins Haus stehen.
Er nickte. »Für meine besten Stücke spare ich die Asche den ganzen Winter über auf. Trotzdem reicht es nicht für die gesamte Produktion. Für eine Serie mit flachen Tellern und Schalen verwende ich Emailglasuren.« Er hielt inne. »Hätten Sie Lust auf eine Tasse Tee? Danach könnten wir noch ins Lager gehen, und ich zeige Ihnen meine Serienproduktion, wenn Sie möchten.« Er lächelte und seine Augen funkelten. Für eine Sekunde vergaß sie fast, dass er ein Sterblicher war.
»Tee wäre großartig.« Das war geschummelt, aber so ein Angebot hätte sie doch niemals ausschlagen können. Manche Dinge hatten sich auch in fünfzehnhundert Jahren nicht verändert. Außerdem war er wirklich hinreißend … warum eigentlich nicht ein bisschen nachhelfen? Sie wandte sich wieder den penibel arrangierten Gefäßen zu. »Sie verlangen geradezu danach, berührt zu werden.«
»Dazu wurden sie gemacht.«
Sie hörte Wasser laufen und das Pling eines Deckels, der auf einen Kessel aufgesetzt wurde, aber Teekochen war was für Sterbliche. Sie hatte andere Sachen im Kopf. Mit beiden Händen griff sie nach der bauchigen Basis eines hohen Gefäßes, das einer gigantischen Seerosenknospe glich, streichelte über die festen Rundungen und glitt mit den Fingern hoch an den schlanken Hals und über den glatten Rand. Daneben stand ein bauchiger Krug mit einem weiten Hals sowie Tülle und Henkel. Offenbar als Wasserkrug gedacht. Was sie jedoch anzog, war die blutrot leuchtende Glasur. Unter all den gedämpften Tönen, blau, grün und grau, stach sie heraus wie ein Blitz aus Hitze und Leidenschaft.
»Wie wunder-, wunderschön!«, sagte sie bloß im Flüsterton, aber Michael Langton schien Ohren zu haben wie ein Luchs.
»Ein absolutes Einzelstück«, erwiderte er und näherte sich mit fast lautlosen Schritten. »Und eigentlich ein Zufallstreffer. Vor Jahren hab ich mit der Raku-Methode experimentiert – die Sachen werden in Sägemehl reduziert«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. »Meistens entstehen dadurch interessante Glasureffekte, aber in dem Fall …« Er streckte die Hand nach dem Krug aus und berührte ihn, seine Finger waren nur wenige Zentimeter von ihren entfernt. »Diesen Krug hatte ich genau in der Mitte des Ofens platziert, und irgendwie hatte er nach dem Brennen diese einzigartige Farbe. Ich habe mindestens ein Dutzend Mal versucht, diesen Glücksfall zu wiederholen, aber es hat nicht funktioniert.« Seine kräftigen Finger glitten hinauf zur Tülle. Die Spitze seines Zeigefingers kreiste am Rand entlang, ehe er wieder nach unten fuhr. Sie ertappte sich dabei, wie sie auf seine abgearbeiteten Hände starrte. »Ich beschloss, ein Geschenk der Götter darin zu sehen und keine Wiederholung zu verlangen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber den hier hab ich behalten. Ich werde mich nie und nimmer von ihm trennen.« In ihrer Entschiedenheit enthielten seine letzten Worte fast eine sanfte Drohung.
»Das kann ich verstehen.« Sie zog ihre Hand zurück. Für eine Beinahe-Berührung an den Fingerspitzen war es noch zu früh. Ab und zu eine Vene anknabbern, das ja – schließlich war das Nahrungsaufnahme –, aber von Intimitäten jedweder Art ließ sie lieber die Finger. »Ich fühle mich geschmeichelt, dass ich den Krug und alles andere sehen durfte.« Ihr Blick glitt über die schönen Formen hinweg, die flachen Schalen und die hohen, schlanken Vasen. Dann drehte sie sich zu ihm um. Er war nahe. Viel zu nahe. Sie bemerkte, wie er roch: ein gesunder männlicher Duft mit einer dezenten Note von frischem Schweiß und noch etwas anderem, etwas ungezähmt Wildem.
Sie riss sich am
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