Unsterbliches Verlangen
»Sonnenaufgang und Sonnenuntergang.«
»Genau. Dad ist eine richtige Nachteule, Mum dagegen ein Morgenmensch. Als wir klein waren, gaben mein Bruder und ich ihnen die Spitznamen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Diese beiden Kissen habe ich zu ihrer Silberhochzeit gemacht.«
»Sie sind unglaublich schön, aber sicher kaum bezahlbar. Da stecken doch unzählige Arbeitsstunden drin.«
»Eigentlich Wochen und Monate. Diejenigen, die ich verkauft habe, waren nicht annähernd so aufwendig.«
»Ein paar davon würde ich Ihnen gerne abnehmen. Ich meine, sie müssten sich als Hochzeits- oder Weihnachtsgeschenke gut verkaufen lassen. Vielleicht stellen Sie auch Sonderanfertigungen nach Wunsch her.« Antonia drehte die Kissen um und besah sich die Verarbeitung. »Ich würde Ihnen gern ein paar abnehmen. Nur der Preis sollte stimmen, damit Sie auch auf Ihre Kosten kommen.«
»Das kriegen wir hin.« Judy nahm die Kissen zurück, während Antonia aufstand. »Wir wissen ja, wo wir uns finden. Geben Sie mir Ihre Handynummer, dann ruf ich Sie an, sobald ich Ihnen was zeigen kann.«
Antonia ließ das Pfarrhaus hinter sich und bog auf die Straße in Richtung Bahnhof ein. Sie wollte den beiden Misses Black noch einen Besuch abstatten. Nun, da sie Judys Arbeiten gesehen hatte, vertraute sie ihr voll und ganz. Vielleicht würden diese beiden Strickschwestern ja wirklich in ihr Sortiment passen. Eigentlich jedoch wünschte sie sich ein paar überregional bekannte Künstler, und sollte Michael Langton tatsächlich so berühmt sein, wie sie hier alle vorgaben, dann wäre er ein guter Anfang.
Am Bahnhof machte die Straße einen Bogen; Antonia warf einen Blick auf die Wegbeschreibung und bog nach rechts auf eine kleinere Straße ab, die an der Wiese entlangführte. Sie fuhr so weit, bis die Straße immer enger wurde und nach wenigen Minuten nur mehr eine holprige Schotterpiste war, mit einem Grasstreifen in der Mitte und wild wuchernden Hecken, deren Äste an beiden Seiten gegen das Auto schlugen. Keine Frage, der Mann wohnte am Ende der Welt.
Mittlerweile verstärkten Schlaglöcher und tief ausgefahrene Spuren im Wechsel mit hohen Grasnarben den Reiz der Szenerie. Ganz so schlimm wie die Straßen von vor Jahrhunderten war es zwar nicht, aber zu Pferde wäre man sicher besser vorangekommen. Antonia war drauf und dran umzukehren – was sie auch getan hätte, wenn ihr eine Einfahrt oder ein Feldweg die Möglichkeit dazu geboten hätte –, da endete die Straße abrupt an einer freien Kiesfläche, auf der man bequem wenden konnte. Als sie scharf rechts einschlug, bereit, umzukehren, entdeckte sie einen klapprigen Lieferwagen, der unter den überhängenden Ästen eines Baums neben einer schmalen Brücke geparkt war.
Mehr ein Steg, verbesserte sie sich. Ein paar dicke Planken, um ganz genau zu sein, vorne und hinten mit etlichen Felsbrocken beschwert. Dahinter führte ein schmaler Trampelpfad zu einem Sammelsurium von Bauten, die wie verfallene Lagerhäuser aussahen.
Hier konnte er unmöglich wohnen. Sicher hatte sie noch irgendwo eine Abzweigung verpasst. Wie sollte man, Einsiedler hin oder her, hier einen Betrieb unterhalten? Hier kam doch kein Lieferfahrzeug durch, und als Töpfer brauchte man große Mengen Ton und Mineralien für Glasuren. Und was war mit Essen? Selbst wer völlig autark im Einklang mit der Natur lebte, brauchte doch seine tägliche Ration Milch. Und wie, bei Abel, beheizte er die Brennöfen? Hier draußen gab es doch sicher weder Strom noch Gas, oder? Und welcher mit Kohle oder Koks beladene Laster wagte sich auf diese Straße? Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihr Auto den Weg zurück schaffen würde.
Antonia sperrte ihr Auto ab. Verrückt eigentlich. Hier draußen trieben sich doch keine Diebe herum, aber sie war nun mal durch und durch Städterin. Sie überquerte den schmalen Steg. Darunter floss ein kleiner Fluss – ungefähr drei Meter breit und mit kräftiger Strömung. Das Wasser glänzte klar und blitzsauber in seinem Bett aus Kieselsteinen und Sand. Darin schossen Schwärme von Elritzen im Licht der funkelnden Nachmittagssonne hin und her. Sam hätte sicher großen Spaß, hier zu fischen. Nun könnte sie auch gleich gucken, ob der Töpfer zu Hause war.
Der Sterbliche hauste scheinbar tatsächlich in diesem Wirrwarr von Baracken – roh zusammengezimmerte Hütten, manche davon gedrungene Schuppen, die sich um einen gepflasterten Hof herum duckten. Antonia streifte daran entlang, bis sie auf
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