Unsterbliches Verlangen
Schreibunterlage seines Schreibtisches aus Satinholz. Dreimal hatte er die Urkundenkassette Blatt für Blatt durchgesehen. Mehr war nicht da. In dem Stapel vor ihm lagen seine eigene Geburtsurkunde und die seiner Mutter, seines Onkels und seiner Großeltern. Dazu die Heirats- und Sterbeurkunden seiner Großeltern sowie die Heiratsurkunde seiner Urgroßeltern. Zum Teufel aber auch, sogar ein Stapel abgelaufener Pässe und Führerscheine sowie die Heiratsurkunde seiner Eltern waren darunter, ausgestellt sechs Monate vor seiner Geburt. Interessant! Aber noch interessanter war es, die Namen seiner Eltern zu lesen: Rachel Stephanie Amy Caughleigh und Roger Alexander Chadwick. Amy, Spinnerin, siebzehn Jahre alt, und Roger, ehemaliger Rechtsanwalt, sechsundsechzig Jahre alt. Heiliger Bimbam! Was für ein Altersunterschied. Würde ihn ja schon interessieren, wie das zustande kam. Hatte vielleicht Sebastian Druck auf seine jüngere Schwester ausgeübt? Oder steckten seine Großeltern dahinter? Damals hatten sie noch gelebt, waren aber ein Jahr nach der Blitzheirat bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
James stieß einen leisen Pfeifton aus. Die Caughleighs hatten wirklich ein paar turbulente Jahre durchlebt. Die Heirat seiner Eltern, der Herztod seines Vaters fünf Monate nach seiner Geburt, der Autounfall seiner Großeltern und schließlich der Tod seiner Mutter.
Jedoch fehlte, bei aller pingeligen Genauigkeit, mit der Onkel Sebastian seine Unterlagen zusammenhielt, Amy Chadwicks Sterbeurkunde. Seltsam. Höchst seltsam.
James rief sich die wenigen Erinnerungen zurück, die er an seine Mutter hatte. Sie war ein fröhlicher Mensch gewesen, lachte gern und spielte mit ihm. Warum auch nicht? Sie war keine achtzehn Jahre gewesen, als er geboren wurde, vierundzwanzig bei ihrem plötzlichen Verschwinden. Erst Monate später hatte man ihm gesagt, dass sie tot war, und Onkel Sebastian hatte ihn mit der alten Sarah Wallace alleine zurückgelassen, als er zur Beerdigung nach …
Verdammt! Er konnte sich nicht mehr an den Namen des Ortes erinnern. Aber man hatte es ihm doch sicher gesagt, oder nicht? Mit sechs hingegen hatte er wohl kaum begriffen, was es bedeutete, dass seine Mutter tot war. Und nie mehr zurückkommen würde. Niemals.
Seltsam, so zurückzudenken, aber Onkel Sebby hatte es immer tunlichst vermieden, von seiner Schwester zu sprechen. Die paar Male, als James gefragt hatte, war er abgeblockt worden. Eigentlich nicht weiter erstaunlich. Sebastian pflegte in der Regel alles abzublocken, womit er nicht belästigt werden wollte. Und dann, nur ein Jahr später, hatte er ihn aus der Dorfschule herausgerissen und in ein weit entferntes Internat gesteckt.
James lachte trocken auf. In den ersten Wochen hatte er sich so einsam und verlassen gefühlt, dass er sogar diese nichtswürdige alte Sarah und ihren Oberlippenbart vermisst hatte, der immer so kitzelte, wenn sie ihm einen Gutenachtkuss gab. Seine halbe Kindheit hatte er damit zugebracht, Geschichten darüber zu erfinden, seine Mutter würde wieder zurückkommen. Sie war von Feen geschnappt worden oder zu Besuch beim König von Siam gewesen, oder Piraten hatten sie entführt und gefangen gehalten.
Hoffnungen und wirre Träume eines Kindes.
Aber warum gab es keine Sterbeurkunde?
War sie vielleicht gar nicht tot? War sie davongelaufen und nie wieder zurückgekommen? Ein Leben mit Sebastian musste für eine junge Frau ziemlich einengend gewesen sein, aber warum, verflixt, sollte sie ihn verlassen? Er hatte sie noch so deutlich vor Augen. Wie sie ihn geküsst hatte, ihm zur Belohnung, weil er so brav war, einen Penguin-Schokoriegel zugesteckt hatte. Sie hatte ihm stets versprochen da zu sein, wenn er von der Schule nach Hause kam, und an jedem zweiten Tag erwartete sie ihn sogar am Gartentor. Nur an jenem Tag war sie nicht da gewesen. Wohin war sie nur verschwunden? Und warum?
James drehte den Stuhl hin und her und zermarterte sich schier das Hirn. Es hätte gereicht, ihn wieder zur Flasche greifen zu lassen, aber er hatte dem Zeug vor einem Jahr abgeschworen, als er mitten auf irgendeinem Acker auf dem Rücken liegend und mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens aufgewacht war, ohne zu wissen, wie er überhaupt dorthin gekommen war. Seine plötzliche Trockenheit brachte ihm im Barley Mow anfangs eine Menge Sticheleien ein, aber, zum Teufel, dieses hübsche kleine Erlebnis hatte ihm den Alkohol gehörig verleidet.
Und nun … Was war mit seiner Mutter
Weitere Kostenlose Bücher