Unsterbliches Verlangen
Wundergefährt alles konnte. Selbst Prudence wusste, dass Daimlers Rennwagen imstande war, bis annähernd fünfzig Meilen die Stunde zu fahren. Allerdings wusste sie es lediglich aus den Erzählungen ihres Vaters und nicht etwa, weil er je mit ihr so schnell in dem Automobil gefahren wäre.
Seit sie im Sommer die Automobilausstellung in Richmond gesehen hatten, war Thomas Ryland geradezu besessen von diesem neuen Transportmittel und einer der wenigen Menschen in der Gegend, die ein solches Gerät ihr Eigen nannten. Prus Schwester Georgiana hielt es für gefährlich und fand, ein Mann im Alter ihres Vaters sollte sich keiner derartigen Freizeitvergnügung hingeben. Pru jedoch liebte das flotte kleine Ding mit dem roten Äußeren und den schwarzen Ledersitzen. Leider weigerte ihr Vater sich, sie einmal fahren zu lassen, weil er angeblich um ihre Sicherheit fürchtete.
Tss . Sie sah doch, wie ihr Vater das Gefährt zum Schlingern brachte wie ein Verrückter. Viel schlimmer als er könnte sie es wohl kaum anstellen! Das war etwas, worüber sie dringend noch einmal mit ihm sprechen sollte, denn sie wollte den kleinen Rest ihres Lebens gewiss nicht behandelt werden, als wäre sie aus Glas.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er seiner jüngsten Tochter den Wunsch erfüllt hätte, den Daimler auf eine Spritztour zu entführen. Da hätte er sich größere Sorgen um seinen Wagen gemacht als um Prudence.
Die Stallburschen hatten sie kommen sehen und warteten nun auf sie. Pru und Caroline stiegen von ihren Pferden und begrüßten ihren Vater und seine Gäste. Sogleich warf ihr Vater Prudence einen Blick zu, mit dem er sie von oben bis unten musterte, um anschließend ihr Gesicht nach Anzeichen von Erschöpfung oder Schmerz abzusuchen. Der gute Papa! Wie fürsorglich er doch war. Sie lächelte ihm zu und wünschte ihm und seinen Freunden einen guten Tag.
Als sie ins Haus traten, streifte Pru ihre Handschuhe ab. Drinnen war es angenehm kühl. Sie liebte dieses Haus, weil es hell, aber nicht zu hell war und nachts von den faszinierendsten Schatten erfüllt wurde. Als Kind hatte sie die dunklen Nischen und Ecken geliebt, die ihre Schwestern mieden. Ihre Mutter hatte es zur Verzweiflung getrieben, denn die Ärmste musste immerzu nach ihr suchen, und niemand verstand, weshalb sie nicht gefunden werden wollte.
Umso seltsamer war, dass sie heutzutage solche Angst hatte, ins Dunkle zu gehen, wo sie es als Kind doch so sehr geliebt hatte. Vielleicht lag es daran, dass Kinder sich nicht sorgen, die Dunkelheit könnte für immer andauern.
Nachdem sie die Hutnadel herausgezogen hatte, nahm sie die Reitkappe ab und war froh, sie los zu sein. »Tee, Caro?«
Ihre Schwester gab jenen leisen Grunzlaut von sich, der Pru immer wieder zum Lächeln brachte. »Natürlich. Warum fragst du mich das stets aufs Neue?«
Pru grinste, als sie über die italienischen pfirsichcremefarbenen Marmorfliesen gingen, wo die Absätze ihrer Stiefel sanft klackerten. »Weil du eines Tages Nein sagen könntest.«
»Zum Tee? Niemals.«
Pru atmete genüsslich den Rosecourt-Duft ein: frische Blumen, Bienenwachs, Zitrone und Nelke. Diese Gerüche umgaben sie ihr ganzes Leben, und sie trösteten sie, wenn alles andere versagte.
Als Sprössling einer der wohlhabendsten Familien Englands war Prus Vater ein Vermögen garantiert gewesen. Rosecourt Manor jedoch war über einen Freund von Thomas' Großvater in die Familie gelangt. Anscheinend hatte der verstorbene Earl of Carnover eine Schwäche für den jüngsten Enkel von Devlin Ryland gehabt und ihm das Anwesen zum Hochzeitsgeschenk gemacht. Da Prus Eltern vier Töchter bekamen, würde das Haus dereinst an den ältesten Sohn einer dieser Töchter fallen. So oder so lohnte es für Pru nicht, über das Vermächtnis nachzudenken.
Sie und Caroline kamen in den Salon, wo die roten Vorhänge zugezogen war, so dass die hellen Streifen nicht bloß zu sehen waren, sondern darüber hinaus auch noch ein sanftes Licht in den Raum warfen. Wände und Mobiliar waren in demselben Cremeton gehalten, was einen hübschen Kontrast zum Lodden-Druck auf den Bezügen von Stühlen und Sofas bildete. William Morris' feine Farbmuster mit ihrem dezenten Verquicken von Blau, Gold, Rot, Grün-und Rosatönen hauchten dem Salon Leben ein.
»Was ist mit Grey?«, fragte Caroline, während sie sich auf einen der Stühle setzte.
»Marcus?« Pru sah sie fragend an und läutete nach Tee. Hatte sie einen Teil des Gesprächs versäumt? »Was
Weitere Kostenlose Bücher