Unter dem Deich
konnte. Wiederholt habe ich an diesem Feiertag beim Sackhüpfen mitgemacht, ein Spiel, bei dem ich immer als Letzter loshüpfte und nie ins Ziel kam. Ein Aushilfsbäcker spielte, auf einem Anglerschemel sitzend, Akkordeon, und abends wurde gelegentlich ein Laternenzug veranstaltet, an dem wir wegen der Brandgefahr nie teilnehmen durften. Auch wenn ich hätte mitgehen dürfen, ich hätte niemals mit so einem brennenden Ding durch die Stadt gehen wollen. So eine Laterne hatte, wie ich fand, etwas Katholisches an sich.
Hatte man in der Damstraat einmal das Haus von Piet Sluys hinter sich gelassen, dann konnte man entweder zur Nassaustraat weitergehen oder in die Oranjestraat abbiegen. Entschied man sich nicht für eine dieser zwei eher hässlichen Straßen, dann stand man am Ende der Damstraat plötzlich vor einer Wand und musste wohl oder übel in die Emmastraat abbiegen. In der Emmastraat wohnte einer meiner Onkel. Mit seiner Familie hatten wir die Rotterdamer (»eine unterhaltsame Zeitung«) abonniert, die dort vor dem Abendessen in der Emmastraat ausgeliefert wurde, wo wir sie nach dem Abendessen dann abholen mussten. Das war meine Aufgabe. Weil ich mich wegen Piet Sluys nicht durch die Damstraat traute, lief ich unsere Straße entlang, bog in die Tuinstraat ein und kam zur Lijnstraat, von wo ich über die Lijndwarsstraat und die Landstraat – in die die Nassaustraat, die Oranjestraat und die Emmastraat mündeten – schließlich doch noch zum Haus meines Onkels gelangte. Unterwegs begegnete ich etlichen meist älteren und oft schon erwachsenen Schicksalsgenossen, die ebenfalls mit einer Zeitung durchs Viertel gingen. Unter dem Deich lasen manchmal drei oder vier Familien eine Zeitung. Mit all den Leuten, die gerade ihre Zeitung holten oder brachten, war daher auf den Straßen immer gut was los. Auch als ich etwas älter war und mich am Haus meines Widersachers vorübertraute, traf ich in den ansonsten stillen, gaslaternenbeleuchteten Straßen immer Burschen, die wie ich mit einer Zeitung in Richtung einer Wohnstube unterwegs waren, in der grundsätzlich mitten im Raum, über dem Esstisch, nur eine einzige Lampe brannte.
Lijnstraat, Sandelijnstraat und Hoekerdwarsstraat verliefen parallel zum Zuidvliet. Die Lijnstraat gehörte noch nicht wirklich zum total heruntergekommenen Gebiet, grenzte jedoch daran. Die Sandelijnstraat und die Hoekerwarsstraat waren das eigentliche Elendsviertel, und ich fand, dass diese beiden Straßen zuerst abgerissen und anschließend saniert werden sollen, zumal dort ein reformierter Kommunist wohnte. Zunächst wurde er in der Kirche toleriert. Nachdem aber die nordkoreanische Armee am Sonntag, den 25. Juni 1950, den 38. Breitengrad überschritten hatte, wurde er, nach vielen Ermahnungen, Schritt für Schritt aus der Gemeinde verbannt.
Als der Sanierungsplan immer mehr Form annahm, war die Sandelijnstraat die erste, in der man an jedem Haus die Fenster mit Brettern vernagelte, sobald die Bewohner ausgezogen waren, und über oder neben der Tür ein Schild anbrachte, auf dem folgende ominösen Worte standen: ›Für unbewohnbar erklärt.‹ Es dauerte nicht lange, da musste ein Haus nicht einmal leer stehen. Es reichte, wenn ein Dachziegel herunterflog, und schon erschien ein solches Schild. Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der für unbewohnbar erklärten und der ungeachtet dessen noch bewohnten Häuser. Man hätte meinen können, es handele sich um eine, zunächst auf die Gegend zwischen Sluyspolder und Zuidvliet beschränkte, ansteckende Krankheit, die dann später auch auf das Gebiet unter dem Deich, westlich vom Noordvliet, übersprang. Es hatte etwas Unheimliches, in einem derart verfluchten Viertel zu wohnen. Oft stellte ich mir vor, morgens aufzuwachen und zu entdecken, dass alle Häuser unter dem Deich mit einem solchen Schild versehen worden waren. Weil das ganze Viertel immer mehr verdammt zu sein schien, war man von einer zunehmenden Beklemmung erfüllt, man hatte das Gefühl, als würde man selbst bald weggebracht.
Trotzdem lebten die Menschen in all den von der Karte gestrichenen Straßen, Wegen und Gassen einfach weiter. Und in den winzigen Höfen der Häuser (Gärten gab es keine) florierte eine regelrechte Bioindustrie. Nicht umsonst hieß die Gegend um die Emmastraat »Kaninchenviertel«. Dort wurden in übereinandergestapelten Ställen Dutzende, manchmal sogar Hunderte von Kaninchen gehalten, und abends zogen die Leute dann zum Deichhang entlang dem Nieuwe Weg, um
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