Unter dem Deich
mit den Spaniern gemeinsame Sache machte, wusste ich, wozu Katholiken fähig waren. Ich verstand nicht, weshalb man sie nicht gleich alle umbrachte. Ich wagte mich selten in die Nähe der katholischen Kirche, obwohl der Pfad entlang des Vliet, mit der Wippersmühle in der Ferne, zu einem Gang zur Auktion in Maasland regelrecht einlud. In der Nähe der St. Aagtenstraat hatte ich mich einmal mit Jan Zwaard unterhalten, der katholisch war.
»Wenn wir wieder Oberwasser haben, kommen alle Protestanten auf den Scheiterhaufen«, sagte Jan.
»Ich auch?«, fragte ich ihn.
»Ich werde ein gutes Wort beim Herrn Pastor für dich einlegen«, sagte er. »Ich werde ihn bitten, dich zu enthaupten, bevor du verbrannt wirst.«
»Nein, nicht«, sagte ich.
»Dann werde ich darum bitten, dass man dich mit Schießpulver füttert, ehe du auf den Scheiterhaufen kommst. Dann explodierst du, sobald das erste Streichholz angezündet wird, und musst so nicht leiden.«
Mit schwerem Herzen ging ich nach diesem Gespräch durch den Lijndraaierssteeg, der Baanslop genannt wurde, zur Schule. Später habe ich nachgesehen, ob das Haus der Familie Zwaard auf dem Plan im Wohnzimmer meines Klassenkameraden auch mit einem Fähnchen markiert war. Zum Glück war das der Fall, und ich atmete erleichtert auf.
Mit ebendiesem Klassenkameraden habe ich den Plan dann vorsichtig von der Wand genommen und mithilfe von zwei Fäden ermittelt, wo sich der Mittelpunkt unserer Stadt befindet. Was ich immer schon vermutet hatte, erwies sich als richtig. Das Pumpwerk – und Stolz erfüllte mein Herz –, in dessen Nähe ich wohnte, lag auf dem Schnittpunkt der beiden Fäden, die wir über den Plan gespannt hatten.
Als ich wieder zu Hause war, schlug ich im Schulatlas die Karte von Südholland auf. Aber die Silhouette von Südholland – die eher so aussieht wie ein Mann mit einer großen Nase, der bei Woerden die Faust ballt und in einem Ruderboot mit einer große Welle kämpft (daher die Beule bei Vijfheerenlanden) – hatte so wenig Ähnlichkeit mit einem Viereck, dass man unmöglich den Mittelpunkt bestimmen konnte. Allein schon der Rucksack des Mannes im Ruderboot bei Hillegom und Lisse!
Auf Durchschlagpapier zeichnete ich die Niederlande ab. Ich zog eine Linie von Sluis zum Dollard und von Vaals zum Leuchtturm auf Terschellingerbank. Unsere Stadt lag nicht auf der Schnittlinie. Dann faltete ich meine Karte einmal der Länge nach und zog zwei Linien über die westliche Hälfte der Niederlande. Mein Herz pochte ergriffen: Unsere Stadt lag genau auf dem Schnittpunkt. Nun schlug ich im Atlas die Abbildung der Erde auf. Ich legte Durchschlagpapier auf Karte 4B und zog zwei Linien darüber. Nein, die Niederlande lagen nicht auf dem Schnittpunkt. Lange betrachtete ich die Karten 4B und 4C. Und plötzlich sah ich es: Wenn man jeweils eine Linie vom Äquator in die Ecke der Karte zog, dann lagen die Niederlande sehr wohl auf dem Schnittpunkt.
»Das Pumpwerk am Anfang unserer Straße«, so formulierte ich meine Entdeckung, »ist der Mittelpunkt der Stadt, und unsere Stadt ist der Mittelpunkt der einen Hälfte der Niederlande, und die Niederlande sind der Mittelpunkt der nördlichen Halbkugel.« Ich bedauerte zwar, dass die Niederlande nachweislich nicht der Mittelpunkt der Welt waren, doch unser Pumpwerk war in jedem Fall der Mittelpunkt der nördlichen Erdhalbkugel.
Daher waren wir auch vollkommen bestürzt, als mein Vater, der damals seit einiger Zeit bei der Gemeinde arbeitete, mit der Nachricht heimkam, er habe im Büro des Bauamtsleiters einen Standplan gesehen, auf dem unser ganzes Viertel unter dem Deich bereits durchgestrichen war.
»Wir werden saniert«, sagte mein Vater. »Bald fangen sie auf dem Damplein mit den Abrissarbeiten an.«
In der dunkelsten Zeit, um Weihnachten herum, hatte der Damplein, der gleich bei uns um die Ecke lag, etwas von einem Geisterreich. Ich liebte es, bei Nieselregen an der Ecke zu stehen und den für mein Gefühl riesigen Platz zu betrachten. Den Platz zu betreten traute ich mich nicht, denn in der angrenzenden Damstraat wohnte Piet Sluys, der gedroht hatte, mir ein Ohr abzureißen, und noch ein Stück weiter, dort, wo der Damplein in Viehweiden überging, wohnten zwei grobknöchige katholische Burschen, die schon aus der Ferne so bedrohlich wirkten, dass es nicht einmal mehr eines Scheiterhaufens bedurfte, um in Todesangst zu geraten.
Trotz all dieser Gefahren übte der Damplein eine große Anziehungskraft auf mich aus.
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