Unter dem Deich
wurde. Im Stort haben sich entlang des Industriewegs zahlreiche Firmen und Betriebe niedergelassen, und dahinter erstreckt sich, wo einst die Wiesen und Äcker des Buys-Bauern lagen, die größte Gifthalde der Niederlande. Wer, mühsam das Gleichgewicht haltend, über die Rohre balanciert ist, wird kaum glauben, dass durch diese Rohre bereits 1,8 Millionen Kubikmeter giftiger Baggerschlamm aus dem Rotterdamer Hafen gepumpt worden sind.
Doch die Veränderungen, die es über dem Deich gegeben hat, sind vergleichsweise gering im Vergleich zu den drastischen Eingriffen in die Bebauung unter dem Deich. Das ganze Viertel westlich des Noordvliet das noch nicht einmal zum eigentlichen Sanierungsgebiet gehörte, ist nahezu verschwunden. Häuser, eine Schule, eine christlich-reformierte Kirche, die Gemeinnützige Bank (in deren Gebäude man am Mittwochnachmittag Bücher von Jules Verne und Jouke Broer Schuil ausleihen konnte) wie auch die gesamte Touwbaan sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Hier und da sind noch kleine Straßenstücke übrig geblieben, die in Neubauvierteln enden. Zwischen den Resten der Wagen- und Marelstraat bahnt sich jetzt eine Art Cityring seinen Weg zum Noordvliet, der kurzen Prozess mit der Nauwe Koestraat und dem Lijndraaierssteeg gemacht hat. Die breite Verkehrsader ist durch zwei Brücken mit der Ausfallstraße verbunden, die zum früher mit einer süßlich duftenden Böschung versehenen Nieuwe Weg führt, der heute Laan 1940 – 1945 heißt.
Was keiner der Bewohner des Sanierungsgebiets nach zwanzig Jahren des Wartens noch für möglich gehalten hatte, ist tatsächlich eingetreten. Ihr Viertel wurde schließlich doch von der Karte getilgt. Zwanzig Jahre lang hatten die Menschen gehofft, dass ihr Viertel, in dem es keine einzige Gaststätte, keine Grünflächen, kein Einkaufszentrum, wohl aber ein Kino namens Luxor-Theater gab, verschont bleiben würde. Als die Alten, von denen es unter dem Deich jede Menge gab, Rente bekamen, konnten sie ihre Häuschen renovieren. Da erschien es bereits weniger wahrscheinlich, dass das Viertel saniert werden würde. Als im Jahr 1963 der Austausch der Gaslaternen durch elektrische Straßenlampen bekannt gegeben wurde, atmeten alle erleichtert auf. Die hinteren Mansardenzimmer wurden ausgebaut. Die winzigen Verschläge, in denen die Frauen kochten, in denen man aber nicht aufrecht stehen konnte, wurden abgerissen und durch kleine Küchen ersetzt. Hier und dort wurden auch die kleinen Höfe zugebaut. Die Schilder »Für unbewohnbar erklärt« verwitterten. Die Buchstaben verblichen, und manchmal halfen die Bewohner dem Verschleiß ein wenig nach, sodass plötzlich zu lesen war: »Für bewohnbar erklärt«. Gewiss, es gab auch Verfall. So sackte das Luxor-Theater, dessen Untergang in vielen Gebeten erfleht worden war, mit der Zeit auf einer Seite immer tiefer in den Boden. Als es so schief stand, dass die Kinobesucher während der Vorführung von High Noon von ihren Stühlen rutschten – wer sagt, Gebete würden nicht erhört! –, da machte man ein Möbelgeschäft aus dem Kino. Im höher gelegenen Teil stellte man, um ein weiteres Absacken zu verhindern, die schweren Ledersofas auf. Trotzdem bekam das Gebäude immer mehr Schlagseite. Und obwohl es am äußeren Rand des Sanierungsgebiets lag, wurde es nicht abgerissen.
Als dann schließlich doch, zu einem Zeitpunkt, als niemand mehr damit rechnete, all die kleinen Straßen aus dem 19. Jahrhundert der Abrissbirne zum Opfer fielen, konnte man Zeuge erstaunlichen Heldenmuts werden. Viele Bewohner weigerten sich, ihre Häuser zu verlassen. Sie mussten weggetragen werden. In einem Häuschen im Bloemhof, dessen Fenster schon lange vernagelt waren und an dem das Schild »Für unbewohnbar erklärt« schon so lange gehangen hatte, dass vom ursprünglichen Text nur noch »…bar…ärt« zu lesen war, wohnte, wie sich zu Beginn der Abbrucharbeiten zeigte, noch ein achtzigjähriger Mann, der den Arbeitern mit einer Säge auf den Leib rückte. Er wurde von der Polizei überwältigt und als Pleun Onderwater identifiziert. Man brachte ihn ins Altersheim in der Rusthuisstraat. Dort wurde er gründlich gewaschen und in frische Kleider gesteckt. Am Tag darauf ist er gestorben.
Vom Sanierungsgebiet sind nur noch zwei halbe und eine ganze Straße übrig. Letztere, die Pieter Schimstraat, hält in gewisser Weise durch ihren Namen die Erinnerung an die schmalen, vom Schimmer der Gaslaternen beleuchteten Gassen unter dem Deich
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