Unter dem Deich
wach. Wer heute unter dem Deich spazieren geht, den erfüllt ein Gefühl der Bestürzung. Kann es sein, dass eine halbe Stadt in Zeiten des Friedens und eines bis dato nie da gewesenen Wohlstands dem Erdboden gleichgemacht wird? Ist das möglich? Können Dutzende von Straßen ohne die Einwirkung von kriegerischer Gewalt so gründlich zerstört werden, dass man noch nicht mal ihre Lage rekonstruieren kann? Das ist möglich! Wo einmal die Sandelijnstraat war, sind heute ein Parkplatz, ein kleiner Park und ein Altersheim, und nichts erinnert mehr an das kleine Stückchen Frankreich namens Rue de Sandelin. Wo früher einmal ein Mann mit historischem Bewusstsein mit Fähnchen auf der Karte markiert hat, wo die katholischen Sluiser wohnten, erstreckt sich nun, sozusagen als gemeine Rache, die Monseigneur W. M. Bekkerslaan. Wo früher einmal das Bild von Drees mit dem Reim hing, steht heute, nicht am Rande, sondern mitten in der Stadt, die neue katholische Kirche.
Wer an dieser Kirche vorbei in Richtung des Dorfes Maasland wandert, fühlt sich für einen Moment noch in die Zeit zurückversetzt, die nicht mehr existiert. Auf der anderen Seite des Wassers verbindet die Rusthuisstraat noch immer den Zuidvliet mit dem Noordvliet. Auch das Altersheim selbst ragt noch über die umliegenden Häuser hinaus. Hinter den Trauerweiden, die sich im Wasser der Vliete spiegeln, steht noch immer die stolze Groen-van-Prinsterer-Schule. Doch ihre runden Fenster sind vernagelt. Und das stille Sumpfland dahinter, einst Zufluchtsort seltener Orchideen, ist jetzt der Zufluchtsort von Schwarzgeld geworden. Getarnt als riesige Jachten, Motorboote und Segelboote, liegt es vertäut an Dutzenden von Stegen, die das treibende Moor zerstört haben. Nur wenige Schritte noch, und wir stehen an der Stelle, wo Jongkind 1862 seine Winterlandschaft gemalt hat. Weil sich das Panorama der Stadt in einhundert Jahren nicht nennenswert verändert hat, hätte es auch im kalten Februar des Jahres 1957 gemalt sein können, während man jetzt meinen könnte, hinter der Mühle liege eine andere Stadt. So kommt es, dass dem Jahr 1957 das Jahr 1862 viel näher zu sein scheint als dem Jahr 1988, und diese perspektivische Verzerrung des Zeitablaufs macht es beinahe unglaublich, dass man selbst noch durch die gasbeleuchteten Sträßchen gegangen ist. Es kommt einem so vor, als flöge die Vergangenheit pfeilschnell davon, ein Flug, den man verzweifelt zu bremsen versucht, indem man über die vergangenen Zeiten schreibt. Nicht um das Verstreichen der Jahre zu beweinen, nicht um verlorenen Paradiesen nachzutrauern, nicht um Politiker anzuklagen, die die Sanierung beschlossen haben, sondern nur um sich auf dem steilen Abhang der Zeit aufrecht zu halten.
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