Unter dem Eis
Das ist leicht, gemessen an dem, was sonst noch vor ihr liegt.
Draußen verbleicht das Tageslicht und die Luft ist seidig. In der Nacht zuvor hat es geregnet, aber am Mittag ist die Sonne zurückgekommen. Die Natur folgt ihrem eigenen Plan, denkt Martina, kümmert sich nicht darum, ob Menschenherzen brechen, weil sie lieben und verlieren und eine Beerdigung organisieren müssen.
Sie geht über die Terrasse, setzt sich auf die Stufen, die zum Garten führen. Ruhelos, planlos, verloren fühlt sie sich. Sie weiß, dass sie weinen muss, schon allein damit diese Stahlklammer, in der ihr Herz gefangen ist, nicht auch noch die Liebe zu Lene und Leander zerstört. Aber sie weiß das auf eine sehr rationale Art und Weise, die nicht wirklich etwas mit ihr zu tun hat. Sie fragt sich, ob sich das jemals wieder ändern wird.
Frank kommt über das Gras auf sie zu. Er muss hinten bei der Schaukel gewesen sein, am Walnussbaum, den Jonny so geliebt hat. Er sieht schrecklich hager aus, und Martina fühlt eine Welle heißer Scham, weil sie ihn zu Unrecht verdächtigt hat.
»Als Jonny an dem Sonntagmorgen im Zeltlager nicht zum Frühstück kam, habe ich Angst bekommen, eine ganz fürchterliche, unerklärliche Angst«, sagt er. »Aber ich dachte, wenn ich es ausspreche, rede ich nur das Unheil herbei. Also bin ich erst mal allein losgegangen und habe ihn gesucht. Ich kenne ja seine Routen. Deshalb habe ich dich erst so spät angerufen. Ich wollte, dass es nicht wahr ist.«
Sie weiß nicht, was sie tun soll, kann sich nicht einmal bewegen. Frank kommt näher, kniet sich vor ihr hin.
»Verzeih mir bitte. Es tut mir so Leid.«
Scham, Schuld, vertane Liebe. Die Eisenklammer wütet in Martinas Brust, eine gerechte Strafe, denn sie hat nicht aufgepasst, nicht auf Jonny und nicht auf ihren Mann, für den sie nun keine Worte mehr hat und erst recht keinen Trost.
»Bitte, Martina, wir sind doch immer noch wir«, flüstert Frank. »Leander, Marlene, Martina und Frank. Eine Familie.«
Es tut so weh, weil es die Wahrheit ist. Die Wahrheit, mit der sie leben müssen. Martina fühlt etwas Nasses in ihrem Gesicht. Sie kann nicht sagen, ob es Tränen sind.
Manni speichert den letzten Bericht im Fall Jonny Röbel ab und schaltet den Computer aus. Er hätte nicht ins Präsidiumkommen brauchen, jedenfalls nicht heute, aber er wollte es zu Ende bringen und außerdem hat der Arzt Entwarnung gegeben. Nur Schürfwunden, ein Muskelfaserriss im Oberschenkel und eine heftige Kniegelenkprellung. Langwierig, ärgerlich, äußerst schmerzhaft, wie Manni sehr genau weiß, aber nicht dramatisch. Die Krücken hat er abgelehnt. Er hinkt über den Flur, der still und verwaist ist. Die meisten Kollegen sitzen bereits im Biergarten, auf dem Balkon oder stehen im Schulferienstau Richtung Süden. Auch Millstätt war heute nicht im Büro. Ein Termin in Düsseldorf, hat seine Sekretärin erklärt, als Manni seinen Urlaubsantrag einreichte.
Judith Krieger sitzt in ihrem Kabuff, rauchend, mit geschlossenen Augen, die nackten Füße auf den Schreibtisch gelegt. Der schwarze Nagellack auf ihren Zehennägeln ist gesplittert, ein blaues, zum Stirnband gewrungenes Tuch bändigt ihre Locken. Sie sieht verletzlich aus, jung. Er fragt sich, wer dieser Mann mit dem Vorstrafenregister ist, für den sie sich so interessiert, und mit wem sie vorhin am Telefon auf Englisch gestritten hat. Als sie seine Anwesenheit spürt, öffnet sie die Augen.
»Sorry.« Er kommt sich plötzlich vor wie ein Voyeur. »Ich wollte dich nicht stören.«
»Schon gut.« Sie macht Anstalten, die Füße auf den Boden zu setzen.
»Lass ruhig«, sagt Manni und setzt sich auf den Besucherstuhl, ohne sein rechtes Knie zu beugen, eine unbefriedigende Prozedur, an deren Technik er noch feilen muss.
Judith Krieger zieht an ihrer Zigarette. »Was ist die Wahrheit?«, fragt sie leise. »Hat Viktor wirklich nichts von Tims Entführung gewusst? Ist Hagen Petermann unschuldig?«
Der Indianerboss hat sein Geständnis widerrufen, es gibt keine Spuren von ihm in dem Bunker, und für das, was sein Sohn getan hat, können sie ihn nicht belangen. Was die Verquickung von Tim, Jonny, Viktor und Ralle angeht, wird es schon schwieriger. Die Wahrheit ist, dass es in diesem Fall zu viele Zufälle gibt, denkt Manni. Zufällig hat Jonny von Petermanns Erpressung erfahren, zufällig traf er kurze Zeit später im Wald auf Ralle und Viktor. Zufällig ist Tim am Montagmorgen ausgerechnet dorthin geflohen, wo Ralle Neisser sich
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