Unter dem Eis
versteckte.
»Ich mag diese Zufälle nicht«, sagt Judith Krieger, als hätte Manni seine Gedanken laut ausgesprochen.
»Wir haben ja nicht nur Zufälle«, widerspricht er.
»Ich weiß. Und die Zufälle sind ja auch nur ein Faktor. Die Wahrheit ist das, was dann passiert.«
»Und das, was zuvor geschehen ist«, sagt Manni und denkt an den Ausdruck in Viktors Augen, als er ihn nach seinen Träumen fragte. An die Schreie des Jungen, als sie an der Dachkante lagen, und an die endlos langen Sekunden, in denen er selbst glaubte, alles wäre vorbei. Warum ist Viktor zum Mörder geworden und Manni Polizist? Auch ein Zufall? Man kann das nicht befriedigend beantworten. Am besten, man denkt gar nicht drüber nach.
»Millstätt ist gerade aus Düsseldorf reingekommen und will uns noch kurz sehen«, sagt Judith Krieger.
Manni stemmt sich hoch, hinkt neben ihr her. Millstätt und sein Faible für die Krieger, klar, dass er sie angerufen hat, nicht ihn. Das hat sich nicht geändert. Die Wahrheit ist auch das, was man nicht aussprechen kann, denkt er. All die grausamen Details aus dem Bunker, für die man Erklärungen und Beschönigungen sucht – für die Angehörigen und vielleicht noch mehr für sich selbst.
In Millstätts Büro verquirlt ein Standventilator warme, verbrauchte Luft. Ihr Chef lehnt am Fenster, bedeutet ihnen, sich zu setzen. Auf seinem Schreibtisch türmen sich Akten. Die Protokolle der Ermittlungen Jonny Röbel und Tim Rinker liegen obenauf. Etwas ist zu Ende, denkt Manni. Ein Kreis hat sich geschlossen. Millstätt mustert ihn, die Pflaster an Händen und Kinn, das ausgestreckte Bein.
»Du hast Urlaub eingereicht«, sagt er. »Du hättest dich doch krankschreiben lassen können.«
Manni schüttelt den Kopf. »So schlimm ist es nicht. Ich brauche einfach ein paar Tage Pause.«
»Ich hoffe, du hast trotzdem am Freitagabend Zeit für eine kleine Feierlichkeit. Die Kollegen wünschen eine Heldenparty. Und außerdem ist es an der Zeit für eine Welcome-back-Party. Für euch beide.«
Zurück im KK 11 , ganz offiziell. Die Kollegen wollen ihnfeiern. Millstätt will ihn feiern. Es ist genau das, was Manni sich erträumt hat.
»Ich kann am Freitag nicht«, sagt er.
Millstätt sieht ihn an. Aufmerksam, überrascht, missbilligend – Manni kann es nicht sagen und zu seiner eigenen Überraschung will er das auch nicht. Er hat sich den Arsch aufgerissen und Millstätt hat ihn zappeln lassen. Es gibt keinen Grund, sich jetzt vor Begeisterung zu überschlagen.
»Nun, KOK Korzilius. Dann müssen wir wohl einen anderen Termin finden«, sagt Millstätt schließlich.
Manni starrt ihn an. Kriminaloberkommissar. Ist sie das endlich, seine lang ersehnte Beförderung? Ich muss mich verhört haben, denkt er, aber Judith Krieger springt auf und umarmt ihn und Millstätt lächelt und schüttelt ihm die Hand und Manni hört sich danke sagen, also scheint es wohl zu stimmen.
Draußen vibriert die Stadt einer weiteren Sommernacht entgegen, und Judith Krieger klappt mit kindlicher Freude das Verdeck ihrer Ente zurück. Jazzgesang begleitet sie auf der Fahrt zu Mannis Wohnung, fließende Tonfolgen, die etwas versprechen und etwas bedauern. KOK Manfred Korzilius. Auch das ist eine Wahrheit, denkt Manni. Ein Wunsch erfüllt sich, und alles, was man hinkriegt, ist ein müdes Grinsen, auch wenn man weiß, dass man sich freut.
An einer Ampel steht eine Frau, die ihn an Miss Cateye erinnert. Ich werde ins Maybach gehen und sie wird da sein, denkt er. Wir werden ein Bier trinken oder zwei und über das Leben reden. Wir werden zu den Deichen fahren, irgendwo festmachen, den Kühen zuschauen und vögeln. Später, wenn ich meinen Vater beerdigt habe.
Judith parkt ihre Ente am Melatenfriedhof, geht den vertrauten Weg zu Patricks Grab und setzt sich auf die Steinbank. Ihr Körper ist schwer, die Müdigkeit kommt mit Macht zurück. Sie sehnt sich danach, endlich wieder schlafen zu können. Wenigstens eine Nacht lang nicht mehr an die Toten zudenken, an die Grausamkeit von Kindern, die nicht gelernt haben, sich selbst oder andere zu lieben, an Verantwortung, Versäumnisse, Schuld und wie das alles zusammenhängt. Sie war so besessen davon, den Jungen Tim zu retten, rechtzeitig zu kommen, wenigstens dieses eine Mal. Sie hat gedacht, dass es danach besser wird.
Aber was sie in dem Bunker gefunden hat, war ein zusammengekrampfter, geschundener Körper, waren Kälte, Dunkelheit, Gestank und Entsetzen. Es hat eine Weile gedauert, bis
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