Unter dem Feuer - Silvanubis #1 (German Edition)
hartnäckig ungebetene Besuche abstattete. Sie wusste nicht, wie lange es her war, dass sie eine Nacht ruhig und traumlos geschlafen hatte. Es dauerte immer endlos, bis sie wieder einschlafen konnte und sie wachte jedes Mal mit der Gewissheit auf, dass der Traum sein Ende noch nicht gefunden hatte.
Anna schlug die Decke zurück, stand auf und griff nach ihren Socken, die im flackernden Kerzenlicht auf dem alten Stuhl lagen. Hastig streifte sie die dunkelgrauen Strümpfe über ihre eiskalten Füße. Der rechte Zeh lugte vorwitzig aus einem riesigen Loch, und sie zupfte so lange an der rauen Wolle, bis die aufgerissene Stelle schließlich unter dem Fuß verschwand. Sie musste es stopfen, unbedingt. Ihre klammen Finger glitten über den wuchtigen Küchenherd. Eine kratzige Wolldecke eng um die Schultern geschlungen, ließ sie sich auf einen der Stühle sinken. Sollte sie einige Stücke Holz opfern und in den Herd schieben? Sie verwarf den Gedanken rasch. Es war April, und obwohl die Nächte immer noch kalt waren, wurde es tagsüber inzwischen einigermaßen warm. Der eisige Winter hatte viele Opfer gefordert, doch gestern hatte sie die ersten Schneeglöckchen entdeckt. Wie sehr sehnte sie den Frühling herbei. Wenn sich die winzigen, weißen Kelche an die Oberfläche wagten, dauerte es nicht mehr lang.
Vorsichtig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her und bewegte ihre steifen Glieder. Das Holz knarrte tadelnd und die Rückenlehne wackelte bedenklich, als sie zurücksank. Sie setzte das halb volle Glas Wasser an ihre Lippen und ließ das kalte Nass ihre Kehle hinunterrinnen. Es war Glück im Unglück, dass die Wasserleitung unversehrt geblieben war. Sie musste nicht, wie so viele andere, das Wasser vom Hydranten nach Hause schleppen. Aber der Hunger quälte sie beharrlich und zudem rund um die Uhr. Eigentlich musste es doch langsam bergauf gehen.
Anna sah sich um, doch außer einigen Kartoffeln, zwei Äpfeln, einer Scheibe Brot und ein bisschen Butter war nichts da. Hamstern, ihr blieb nichts anderes übrig. Heute würde der Laden geschlossen bleiben. Es kam ja doch keiner, um Spielzeug zu kaufen. Wer überhaupt ein wenig Geld übrig hatte, versuchte etwas Essbares zu besorgen. Wenn es denn etwas gab … Wie oft war sie mit ihrer Lebensmittelkarte losgezogen, stand stundenlang beim Bäcker an, um enttäuscht ohne eine Scheibe Brot wieder nach Hause zu gehen.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie beschloss, auf Peter zu warten, und wenn er nicht bald kam, würde sie ihren Rucksack schultern und sich auf den Weg machen.
Anna lächelte vor sich hin, während sie das dünne, abgetragene Nachthemd abstreifte, in ihre hellblaue Jeans und einen dunkelblauen Wollpullover schlüpfte. Sie liebte die verschlissene Hose. Wahrscheinlich hatte sie zuvor einem amerikanischen Soldaten gehört, doch sie passte ausgezeichnet und musste weder gekürzt noch umgenäht werden. Im Halbdunkel räumte sie ein wenig auf. Peter Schubert war Vaters bester Freund gewesen. Natürlich würde er wie immer pünktlich erscheinen. Seit dem Tod ihrer Eltern gab es nicht einen Tag, an dem er nicht vorbeischaute. Die erste Zeit war Peter nicht von ihrer Seite gewichen, nicht eine Minute ließ er sie allein. Er hatte eine Decke auf dem Boden neben ihrem Bett ausgebreitet und dort geschlafen. Dann hatten sie zusammen geschwiegen, zwei Tage lang, schließlich gemeinsam geweint und nach einem Monat hatten sie das erste Mal gelacht! Dankbarkeit überflutete sie und sie musste blinzeln. Meistens überraschte er sie mit kleinen Mitbringseln. Mal mit Kaffeepulver, mal mit etwas Wolle, und wenn sie ganz viel Glück hatte, mit ein wenig Schokolade. Auch Kohle hatte er immer wieder besorgt. Sie wollte lieber nicht wissen, wie er all die Kostbarkeiten organisierte.
Wenn es nur nicht so kalt wäre. Die Decke war nicht nur kratzig, sie war auch viel zu dünn. Unruhig lief sie im Zimmer auf und ab. Sie wusste nicht, wie sie diesen brutalen Winter ohne Peter überhaupt überstanden hätte. Anna seufzte. Sie nahm die flackernde Kerze, zog eine flache Holzkiste aus dem Regal und öffnete behutsam den Deckel. Bislang hatte sie sich gescheut, das Besteck einzutauschen. Mit zitternden Fingern nahm sie einen Löffel und betrachtete ihn im Kerzenschein. Wer ihn wohl zuletzt in der Hand gehalten hatte? Ihr Vater, ihre Mutter oder vielleicht sie? Ihre Augen brannten. Egal. In ein paar Stunden würde sie losziehen und versuchen, etwas Essbares für das Silber zu bekommen. Es
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