Unter der Hand (German Edition)
Profilen. Brüderlein und Schwesterlein scheren sich allerdings wenig um meinen blumigen Blick, um meine Rührung, um meinen Liebesüberschuss, der sich gerne über sie ergießen würde, weil er für eine Person allein unmäßig ist. Dagegen Nina und Franz: Sie haben kühl die Vorteile erwogen, die ihnen aus der errechneten Deckung – welch schöner Doppelsinn! – für ein störungsarmes, gepaartes Leben erwachsen würden, sind dabei durchaus gewinnende Menschen geblieben. Keine Scheusale, sondern lebenstüchtige Liebesunternehmer, effiziente Gefühlsverwalter. Ich komme mir mal wieder bis zur Plumpheit beschwert vor vom Geburtsmakel des Liebeshungers. Dabei ließe er sich von robusteren Naturen als meiner durchaus verteidigen: Als die letzte ungezügelte Bastion der Unvernunft, Liebe geht immer über Gebühr. Ich habe keine Ahnung, worin Heinrichs und mein Profil
matcht
, wie Nina sich ausdrückte. Möglicherweise haben wir gar keine Schnittmenge. Wir haben uns nicht verabredet, nur getroffen. Ich kann es abwarten, dass ich mehr und andere Worte dafür finde als:
Seele
. Und dass ich es abwarten kann, ich, die ich Ergebnisse immer hochrechnen musste, noch bevor es etwas zu bilanzieren gab, das verdanke ich etwas durchaus Benennbarem an Heinrich, ich verdanke es seiner
Güte
. Ich bestehe auf diesem Wort. Alle anderen Bindemittel sind noch unbegrifflich, sind gefühlte Vorwegnahmen – wenn sich im Laufe der Zeit, die wir hoffentlich haben werden, Erfahrung dazugesellt, werden sich auch die Worte finden. Die Wortschatztruhe, die von den meisten für eine Mottenkiste gehalten wird, lässt sich nicht auf Kommando heben, nur auf Wunsch. Lustig, dass ich als eine, die aus einer Liebespanne hervorging, nun ausgerechnet zur Liebesapologetin geworden bin. Wie hat Nina gesagt? Zur Überschwänglerin. Wenn ich auf Lotte schaue, die vor dem Flurspiegel in Erwartung eines Mannes,
meines
Mannes ihre Haare richtet, wenn also Lotte so dasteht, den altmodisch-flirrigen, mürben Frisierumhang um die Schultern gelegt wie einen königlichen Hermelin, dann ist es mir unmöglich, sie nicht ins Herz zu schließen. Durchaus gegen meinen eigenen Strich.
Heinrich kommt und wird begrüßt, mit Handschlag, mit Kuss, mit einem kurzen, freundlichen Nicken, mit einem formvollendeten
Herzlich willkommen
von Lotte. Deren Bernsteinkette ihm sofort ins Auge fällt und ausführlich besprochen wird. Lotte ist gewonnen.
Es geht fabelhaft weiter an Lottes festlicher Tafel – alle Lampen im Esszimmer sind erleuchtet, und Lotte sagt, dass sich bei ihr
ganz zuhause
mittags nie weniger als ein Dutzend Menschen zum Essen eingefunden hätten, Hausgesinde, Nachbarn, Verwandte, wie der Appetit wachse mit der Zahl der Esser! Dann gibt sie Geschichten aus dem Lehrerhaushalt zum Besten, erklärt den Jungen, was eine Zwergschule ist, und erzählt, dass die Stallungen mit den beiden Kühen und zwei Pferden im Erdgeschoss des Schulhauses waren, die Wohnräume darüber. Worauf Anja sagt, das sei ja wie in der Bibel, die Bemerkung bleibt ein wenig dunkel, nicht zuletzt, weil wir alle viel trinken von Heinrichs Wein, den er, das Kopfende des Tisches einnehmend wie ein Familienoberhaupt, nachschenkt, noch bevor die Gläser leer sind. Der Wein hat Lottes Nase gerötet, die im Vergleich zu den feinen, schmalen der beiden Kinder geradezu derb-heiter aussieht mit ihrem breiten Sattel und den stabilen Flügeln. Eine Nase der weiten, östlichen Ebenen, der flachen Äcker und tiefen Himmel. Sie hält etwas aus, sie könnte, läge es im Bereich der Möglichkeiten einer Nase, dem Leben die Stirn bieten, sie ist ganz und gar irdisch.
Die Kinder haben gut gekocht, es wird gelobt und mehrfach zugegriffen, zwischen Küche und Esszimmer pendelnd, tragen sie Speisen auf und leeres Geschirr wieder ab. Sie tun es – es gibt kein anderes Wort dafür – sie tun es mit Grazie. Mein Blick verschwimmt da zugegebenermaßen schon ein wenig und wendet sich, von dieser unwahrscheinlichen Tischgesellschaft abschweifend, ins Ungenaue. Ins ungelebte Leben, das sich an diesem unwirklichen Abend kurz als Wirklichkeit blicken lässt – wie durch den Spalt einer nur angelehnten Tür. Heinrich und ich, ein Liebes- und Elternpaar. Auf wessen warmherzige Rechnung geht das? Unwichtig. Es hätte sein können. Auch der Konjunktiv ist Lebensstoff.
Als sich mit einem Ächzen die Rollläden wie von Geisterhand in Bewegung setzen – Lotte hat eine Zeitschaltung, auch einige Lampen gehen von allein an
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