Unter der Hand (German Edition)
und aus –, schreit Anja auf, und Lottes Gesicht nimmt einen glücklichen Ausdruck an; sie hat etwas zu bieten.
Gegen Mitternacht wird sichtbar, welche Kraftanstrengung der Abend für Lotte bedeutet hat, eine Anstrengung, die sie nun nicht mehr aufbringt: Es ist, als schöben sich ihre Schultern zu einem Dach über dem erschlafften Körper zusammen, ihr Kinn berührt fast die Tischkante, das Gesicht, gerade noch lebhaft, ist gipsern erstarrt. Ich springe auf, fasse sie unter den Achseln und erschrecke über die Klapprigkeit, das Gestellartige ihres Körpers. Im ersten Stock, in ihrem Schlafzimmer, kehren ihre Lebensgeister halbwegs zurück, das Bett ist erreicht. Unter den Blicken der beiden viktorianischen Blassgesichter helfe ich ihr bei den Vorbereitungen zur Nacht, Heinrich den Köchen beim Aufräumen. Für den nächsten Tag haben Anja und ich verabredet, mit Lotte zusammen zum Juwelier zu gehen: Im Schwung des Festessens hat sie beschlossen, den Vorsatz in die Tat umzusetzen und sich Ohrlöcher stechen zu lassen. Mit zweiundachtzigeinhalb, wie sie betont, als sei die sechsmonatige Entfernung zum dreiundachtzigsten Geburtstag eine solide Frist, die der Entscheidung das Auffällige nimmt.
Als ich sie frage, ob es dabei bleibt, nickt sie kräftig. Ja, sagt sie, unbedingt. Beschlossen ist beschlossen. Bis morgen, Ruth.
Die Tür fällt hinter uns in Schloss, Anja sagt, nett ist deine Lotte, vor unseren Füßen trippelt ein Igel ins Gebüsch. Der drollig-würdevolle Gang, mit dem er seinen stachligen Leib auf zierlichsten Füßchen in Sicherheit schaukelt, bringt uns zum Lachen. Sieh an, denke ich, ein Igel mit hellblauen Augen, Gevatter Vico in neuer Gestalt, aber noch immer bedeutend. Und ist da nicht ein dolchspitzer Zahn, der unter der kleinen Lefze hervorblitzt? Heinrich sagt so etwas wie: Schön, dass auch die Natur manchmal unpraktisch denkt. Ich hake mich bei ihm ein und sage ausgelassen, dass nicht zuletzt wir davon nutznießen.
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten schläft Lotte nicht hinter einer dreifach verriegelten Tür.
Und ist vier Tage später nicht mehr am Leben.
Vierundzwanzig
Lotte hat einen Juwelier in der Theatinerstraße ausgewählt, Anjas erneuter Vorschlag, ein Piercingstudio aufzusuchen, wurde von ihr mit Entsetzen abgelehnt. Wir betreten geräuschlos das mit flauschigem Teppichboden ausgelegte Geschäft, eine kleine Prozession, die durch den Rollator etwas Zeremonielles bekommt, und gelten dem beflissenen Angestellten vermutlich als Mutter, Tochter und Enkelin. Wir werden in ein Hinterzimmer geführt. Lotte spricht kein Wort, sie presst die Lippen aufeinander und bläht die Nasenflügel, sichtlich erschrocken über die eigene Verwegenheit. Anja hält ihre Hand und wiederholt stur halb so wild . Der Angestellte tritt mit einer kleinen, samtig ausgelegten Palette vor Lotte und fordert sie auf, ihre ersten Ohrringe auszusuchen. Lotte deutet ohne das geringste Zögern auf ein Paar Hufeisen, dann schließt sie die Augen.
Die Ohrläppchen, groß, weich und blutleer, werden freigelegt und desinfiziert, dann setzt der Mann eine Art Pistole an; zwei kurze, schussartige Explosionen später hat Lotte goldene Hufeisen in ihren Ohren. Ein Handspiegel wird ihr gereicht, in dem sie vor Tränen nichts erkennt. Blind wühlt sie in ihrer Handtasche nach einem Papiertaschentuch und schaut schließlich, nach erfolgloser Suche, zu mir her. In diesem Moment sieht sie verklärt aus wie ein Kommunionskind, dem ein sehnlichster Wunsch endlich in Erfüllung gegangen ist. Sie kaut auf der Unterlippe, strahlt und weint gleichzeitig, ihre Finger tasten nach den Ohrläppchen, finden sie nicht, greifen ersatzweise nach Anjas Hand. In Lottes altes, meist grämliches Gesicht, in die Strenge und Enge, die auch ihre Bewegungen hölzern und ihre Stimme oft schrill gemacht haben, ist etwas getreten, das nicht anders als Erleuchtung genannt werden kann. Es gibt sie also, die erfüllbaren Wünsche.
Wir gehen Eis essen, wieder und wieder lässt sich Lotte von Anja die notwendigen Pflegemaßnahmen für die frischen Wunden – die ja Auszeichnungen waren – aufzählen, in der Apotheke wurde alles Notwendige eingekauft, und am Ende des Tages sind wir alle drei ausgebrannt und abgekämpft von so viel Glück. Aber Lotte hat Blut geleckt in Sachen erfüllte Wünsche und macht, zur Verabschiedung bereits auf der Türschwelle stehend, einen unglaublichen Vorschlag. Lasst uns alle – und damit meint sie wohl die Tischgesellschaft
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