Unter der Hand (German Edition)

letzten drei Tage – ein ganzes Wochenende, genaugenommen: drei Feiertage –, die wir mit ihr verbracht hatten.

Achtundzwanzig
    So weit das Auge reicht, zieht sich der Strand längs der elegant geschwungenen Parabeldüne; dort wachsen Strandroggen und Strandhafer, Krähenbeere, Tüpfelfarn und Flechten, Heidekraut, Echtes Labkraut, Silbergras, Lungenenzian, Hundsveilchen, Blutwurz und Nachtkerze. Heinrich kennt alle Namen und sagt sie auswendig her.
    Nichts gibt es, sagt er, was diese Überlebenskünstler und Lebensbewahrer nicht heilen und stillen könnten.
    In zäher und zärtlicher Anhänglichkeit schmiegen sie sich und klammern sich, ranken, rändern sich an den ungewissen Boden. Wie empfindlich dieses schmale Stück Land mit seinem Sand ist. Gäbe es die Wurzeln nicht, es würde davonfliegen.
    Vor dem blass gedehnten Himmel steht er, in weißem Hemd und heller Hose, die Haare nur noch windgekämmt. Ein Urlauber vom Leben.
    Weitab halten die Möwen unter großem Geschnatter Konferenz; so viel gibt es zu beraten.

Da capo
    Ich hatte einen Pathologen gefragt, ob es sich um einen Fall von MSI handeln könnte,
    mors subita infantium
, auf Deutsch: plötzlicher Kindstod. Wenn es keine klinisch auffälligen Befunde, keine Drogen, kein Gift gibt, bleibt als Erklärung ein multifaktorielles Geschehen, die Schlafposition vielleicht, Überwärmung, ungenügende Luftzirkulation. Aber mit Anfang fünfzig? Nie gehört. Märchenhaft. Ein Novum.
    Parwiz, Anja und ich sitzen in der Eisdiele, ein ziemlich ramponierter Bierdeckel liegt unter der Speisekarte, darauf die Zeichnung einer schmalen Landzunge. Die Kurische Nehrung!
    Anja trägt Reitstiefel und goldene Ohrstecker in Hufeisenform. Sie sagt: Ich glaube, Minna ist mit Heinrich dort geblieben, wohin sie geflogen sind, neulich. Wie hieß der Ort?
    Schwarzort
, sage ich und bin zum ersten Mal in meinem Leben unvorsichtig, so wird es wohl sein.