Unter Deutschen
becoming«, ärgerte sich der Schriftsteller: »Zu was für einer Schererei sich diese Reise entwickelt.« Und er zog daraus die Konsequenz: »Bald muss ich wirklich kotzen. Oder nach Hause gehen.« Ausgerechnet der französische Kleinkriminelle Jean Genet, der das »Dritte Reich« 1937 als Landstreicher durchstreifte, stellte fest, dass das Verbrechen hier die ganze Gesellschaft erfasst hatte: »Dies ist ein Volk von Dieben.« (»C’est un peuple de voleurs.«) »Wenn ich hier stehle, tue ich nichts Besonderes.«
Der US-amerikanische Dokumentarfilmer Julien Bryan, der zur selben Zeit wie Kennedy durch Deutschland fuhr, nahm Bauern bei der Ernte und Kinder in einer jüdischen Schule auf, aber auch Veteranen und Uniformierte, Autobahnen und Kriegsflugzeuge. Er erlebte den Reichsparteitag, den Kennedy verpasste, als »größte Show auf Erden« und stellte überwältigt fest: »Unsere Football-Spiele sind nichts dagegen.«
Der afro-amerikanische Soziologe W. E. B. DuBois schließlich berichtete im Pittsburgh Courier von einem halbjährigen Forschungsaufenthalt,den er auf sich nahm, um die Situation der Juden in Deutschland mit jener der Schwarzen in seiner Heimat vergleichen zu können. »Ich komme einfach nicht hinweg über meine fortgesetzte Verblüffung«, schrieb DuBois, »hier wie ein Mensch behandelt zu werden.« Ausgerechnet im Reich Adolf Hitlers sei er als Schwarzer »durchweg höflich« aufgenommen worden, er habe keine Beleidigung oder Diskriminierung erfahren, was über einen so langen Zeitraum in den USA, unter den Bedingungen der Rassentrennung, »unmöglich« gewesen wäre. Aber DuBois wusste, dass sich der deutsche Rassismus umso schärfer auf eine andere Gruppe richtete und dass die Verfolgung der Juden »an Grausamkeit alles übertrifft, was ich jemals erlebt habe – und ich habe einiges erlebt«.
Wie die Zeugnisse dieser Beobachter, so dokumentieren auch John F. Kennedys private Aufzeichnungen, wie der Nationalsozialismus damals wahrgenommen werden konnte – ohne spätere Korrekturen; spontan – ohne nachträgliches Wissen; mit fremdem Blick – ohne deutsche Befangenheit.
Im Nachhinein erscheinen die Dinge eindeutig: »Wir machten dort ausschließlich schlimme Erfahrungen«, erinnerte sich Lem Billings fast drei Jahrzehnte später. »Uns missfiel die ganze Angelegenheit. Wir verließen das Land mit einem sehr üblen Gefühl.« Diese durchweg ablehnende Darstellung entspricht kaum den facettenreichen Notizen in Kennedys Tagebuch, die alltägliche Banalitäten und touristische Impressionen ebenso enthalten wie naive Kurzschlüsse, aufkommende Zweifel und kritische Analysen.
Irritierend wirken aus heutiger Sicht die Stereotype, mit derenHilfe der Reisende Orientierung sucht: Aus dem Besuch eines Stierkampfes schließt Kennedy, dass die Spanier Gewalt lieben; die Franzosen hält er für hygienisch nachlässig, ein »primitives Volk« mit »kohligem Mundgeruch«; die Italiener für »das neugierigste Volk überhaupt«, aber »straff organisiert«, »die ganze Rasse [englisch: »race«] wirkt attraktiver«.
Solche ethnopsychologischen Spekulationen führen zu einer gewagten Schlussfolgerung: »Fa[s]cism is the thing for Germany and Italy, Communism for Russia and democracy for America and England.« (»Faschismus ist das Richtige für Deutschland und Italien, Kommunismus für Russland und Demokratie für Amerika und England.«)
Besondere Aufmerksamkeit verdient die Begeisterung über die Schönheit des Rheinlandes: »Die Städte sind alle sehr reizend, was zeigt, dass die nordischen Rassen den romanischen gewiss überlegen zu sein scheinen. Die Deutschen sind wirklich zu gut – deshalb rottet man sich gegen sie zusammen, um sich zu schützen ...«
Auch wenn es sich um private Aufzeichnungen handelt, verhält sich der Tagebuchschreiber hier sprachlich, ob unwillkürlich oder bewusst, durchaus vorsichtig: Während das mit dem Adverb »gewiss« (»certainly«) so seltsam sich reibende Verb »scheinen« (»seem«) die Aussage – ebenso wie an anderen Stellen im Tagebuch – als oberflächlichen Eindruck relativiert, während das knappe Adjektiv in seiner Steigerung (»too good«) auch ironisch oder sardonisch zu lesen ist und während die Auslassungspunkte am Ende eine gewisse Offenheit, Unfertigkeit oder Unsicherheit anzeigen können, zeugt die Bemerkung gleichwohl davon, dass sich der Verfasser – wie bereits inItalien nun auch in Deutschland – von der öffentlichen Ordnung und Sauberkeit in
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