Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
hätte Karriere machen können. Aber das Auffälligste an ihm waren seine stahlblauen Augen. Bevor sie noch ein Wort miteinander wechseln konnten, stellte Zack sich in die weit geöffneten Terrassentüren, klatschte in die Hände und bat seine Gäste um einen Moment der Aufmerksamkeit. Er hielt eine kurze Rede, von der Alex kein Wort mitbekam. Sie bemerkte, dass Vitalis verstörend unergründlicher Blick unverwandt auf ihr ruhte, und sie war hin-und hergerissen zwischen einer instinktiven Abneigung und einer eigenartigen Faszination. Der Mann verunsicherte sie, und sie wusste nicht, ob ihr das gefiel. Nichtsdestotrotz erwies er sich als ein ausgesprochen unterhaltsamer und aufmerksamer Gesprächspartner. Er stellte ihr seinen Freund und Anwalt Nelson van Mieren vor, der das genaue Gegenteil von Vitali war: klein, dick und kahlköpfig mit einem liebenswürdigen Lächeln auf den wulstigen Lippen und flinken, wachsamen Äuglein über feisten Hängebacken, die den ersten Eindruck von harmloser Gemütlichkeit Lügen straften. Van Mieren verabschiedete sich gegen halb eins. Danach fand Alex sich unversehens allein mit Vitali auf der Terrasse wieder. Sie trank sehr viel mehr Champagner als üblich und ihre anfängliche Abneigung gegen Vitali verwandelte sich schnell in prickelnde Neugier. Es war halb drei, als sie feststellte, dass sie sich den ganzen Abend ausschließlich mit Sergio Vitali unterhalten hatte. Sie bedankte sich bei Zack für die Einladung, lehnte Vitalis Angebot, sie nach Hause zu fahren, höflich, aber bestimmt ab und verließ die Party mit einem Kribbeln im Bauch und dem sicheren Gefühl, bei einem der wichtigsten und einflussreichsten Männern der Stadt einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.
***
Mark Ashton saß an einem Freitagnachmittag im September an seinem Schreibtisch im 14. Stock des LMI-Building. Im Gegensatz zu seiner Chefin stand dieser in einem Großraumbüro, aber das störte ihn nicht. Ebenso wenig störte ihn die Arbeit,die ihm willkommene Ablenkung zu seinem wenig aufregenden Privatleben bot. Vor rund zwölf Jahren hatte es ihn, den Harvardabsolventen und Juristen, an die Wall Street verschlagen. Nach sechs Jahren in einer der größten New Yorker Kanzleien war er zu LMI gekommen, hatte aber im Handelsraum kläglich versagt. Die Hektik und der Stress waren nichts für ihn, er war nicht geldgierig und rücksichtslos genug, um dort Erfolg zu haben. Auf eigenen Wunsch hatte die Personalabteilung Mark schließlich in die Abteilung für Konsortialgeschäfte abgeschoben, und dort hatte es ihm drei Jahre lang recht gut gefallen. Detaillierte Berechnungen, Bilanzen und betriebswirtschaftliche Auswertungen waren eher sein Ding. Aber als im Februar die neue M & A-Chefin jemanden für die trockene Researcharbeit gesucht hatte, hatte Mark sich spontan und erfolgreich beworben. Und das hatte er nicht bereut. M & A war eine aufregende Sache. Mark hielt bei seiner Arbeit inne, setzte seine runde Brille ab und rieb sich die Augen. Alex Sontheim war die cleverste und kompetenteste Chefin, die er jemals gehabt hatte, und sie vermochte ihr Team auf eine unnachahmliche Weise zu motivieren. Sie bemerkte jeden Fehler und registrierte jede Schwäche, aber sie stellte nie jemanden bloß. Unvorbereitet sollte man nicht in ihr Büro kommen, das war schnell klar. Ein Lob von Alex kam einem Orden gleich, und es war ihr gelungen, die zusammengewürfelten Leute, die die neue M & A-Abteilung bildeten, innerhalb kürzester Zeit zu einem Team zu formen und ihnen ein Wir-Gefühl zu vermitteln, das in der Welt der Wall Street-Egozentriker seinesgleichen suchte. Die gesamte Abteilung arbeitete, wenn es sein musste, klaglos bis spät in die Nacht und an den Wochenenden, man feierte Erfolge gemeinsam bei After-Work-Partys im St. Johns Inn , im Luna Luna oder im Reggie’s at Hanover Square . Mark fühlte sich das erste Mal in seinem Leben als akzeptiertes und wichtiges Mitglied eines effektiven Teams, und das verdankte er Alex. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte er sich vorgenommen, sie loyal zu unterstützen, und gerade deswegen hätte er gerne gewusst, ob es sie interessierte, was er bei seinen Recherchen über einen potentiellen neuen Klienten herausgefunden hatte. Es war eine eigenartige Sache und Mark wusste nicht, was er davon haltensollte. Hanson Paper Mill aus Wisconsin war eine der größten Papiermühlen des Landes und hatte daran Interesse bekundet, den renommierten, aber beinahe bankrotten Verlag
Weitere Kostenlose Bücher