Unter Verdacht
vielleicht fand sie ja am Nachmittag Zeit, bei Karen Candela anzurufen. Wie sie sich wohl fühlte – am Tag nach so einem Erfolg?
Karen schaute zur Uhr. Es war zehn Minuten vor halb neun. Um halb neun fand das Treffen ihrer Teamleiter statt. Sie machte sich auf den Weg zum Konferenzzimmer.
Pünktlichkeit war eines ihrer Prinzipien, das sie sich zu eigen gemacht hatte. Sie wusste, um als Frau und Firmeninhaberin zu bestehen, waren absolute Fachkompetenz und strenge Disziplin Grundvoraussetzungen. Wäre sie ein Mann, würde es vielleicht ausreichen, wenn sie einen dieser Vorzüge gehabt hätte. So aber brauchte sie beides, um sich den notwendigen Respekt zu verschaffen.
Karen lächelte in sich hinein. Solche Abende wie der gestrige waren eine willkommene Abwechslung im sonst harten Alltag. Und der Reiz der Veranstaltung war durch die angenehme Gesellschaft von Sylvia Mehring unbestreitbar erhöht worden. Karen kannte sich gut genug, um zu wissen: Frauen wie Sylvia beeindruckten sie – und waren ihre Schwäche. Sylvia war einige Jahre älter als sie selbst, offensichtlich eine eher stille und zurückhaltende, aber auch sehr starke Frau. Universitätsprofessorin? Das passte irgendwie zu ihr, zu dem markanten Gesicht, den schmalen Lippen, den aufmerksamen Augen . . .
Karen merkte, wie ihre Gedanken abschweiften. Sie rief sich auf den Boden der Tatsachen zurück. »Halt dich zurück!« ermahnte sie sich selbst. »Ihr werdet in den kommenden Wochen zusammen arbeiten – nichts weiter.« Alles andere brächte nur ein furchtbares Chaos. Sicher war Sylvia nicht allein. Und ganz sicher war sie nicht lesbisch.
Schmerzhaft kroch in Karen die Erinnerung an Michaela hoch. Die Augenblicke ungezügelter Leidenschaft zwischen ihnen wichen sehr schnell der frustrierenden Erkenntnis, dass Michaela nie bereit sein würde, sich als lesbische Frau zu akzeptieren. Sie zählte unendlich viele Gründe auf, warum ein Leben mit einer Frau auf Dauer nicht gutgehen könnte. Karen hörte irgendwann auf, dagegen zu argumentieren. Ihr wurde klar: Michaela hatte einfach Angst. Vor Intoleranz, Vorurteilen, Ausgrenzung, Einsamkeit. Karen seufzte deprimiert. Anschließend bist du in den Fängen von Miriam gelandet, weil du einfach nur jemanden wolltest, der zu seinen Gefühlen steht, egal wie exzessiv sie sind.
Karen schüttelte die Gedanken ab. Es galt jetzt, sich auf die bevorstehende Konferenz zu konzentrieren. Es gab eine gute Nachricht: Sie hatten ein neues Projekt gewonnen.
Sylvia verließ mit dem Strom der Studenten den Vorlesungssaal, bahnte sich ihren Weg durch die belebten Gänge im Untergeschoß, die Treppe hinauf zu den Büros. Noch während sie die Tür zu ihren zehn Quadratmetern aufschloss, klingelte das Telefon. Sylvia beeilte sich beim Aufschließen, machte zwei schnelle Schritte zum Schreibtisch und griff nach dem Hörer.
»Mehring«, meldete sie sich mit abgehetzter, elanloser Stimme.
»Das hört sich ja schlimm an. Wo ist Ihr allseits berühmter, unverwüstlicher Tatendrang?« klang die freundliche, sonore Stimme Professor Bauers aus der Muschel.
Sylvia ahnte nichts Gutes. Bauer klang zu forsch. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie ihr ehemaliger Mentor, nun Dekan des Fachbereiches Architektur, vor vier Wochen in ihr Büro geschneit kam und die Entwurfsauswahl für das Kießling-Projekt bei ihr abgeladen hatte. Da war er ebenso gewesen. Forsch und gutgelaunt. Damit wollte er sein schlechtes Gewissen ihr gegenüber verbergen. Er wusste, dass sie ein enormes Pensum an Vorlesungen gab und bereits mit mehreren Sonderaufgaben belastet war. Sein schlechtes Gewissen wurde jedoch von seiner Notlage noch übertroffen. Es gab einfach zu wenig Mitarbeiter im Bereich.
Eingedenk ihrer Erfahrung entgegnete Sylvia vorsichtig: »Selbst die alten Ägypter, Pharaos treue und gläubige Untertanen, sangen nur sechs Jahre während des zwei Jahrzehnte währenden Baus der großen Pyramide. Verlangen Sie nicht mehr Zuversicht von mir, wo ich nicht Trost im Glauben, sondern nur in meinem bescheidenen Gehalt finde.«
Bauer lachte über den dramatischen Vergleich und bat sie zu sich.
»Aber in ein paar Minuten beginnt mein Seminar«, erinnerte Sylvia.
»Heute nicht. Ich habe mit Doktor Menge gesprochen. Er vertritt Sie.«
Sylvia machte sich auf den Weg in das Allerheiligste. Die Sekretärin im Vorzimmer schaute nur kurz auf und nickte. Sylvia ging an ihr vorbei zur Tür des »Alten«.
Bauer saß bei ihrem Eintritt hinter seinem
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