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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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hörte auf, daran zu glauben. Sein Ethikprofessor war ein junger, außergewöhnlich weitschweifiger und sympathischer Absolvent der École normale supérieure, der die Texte mit schon fast ekelhaft brillanter Ungezwungenheit behandelte, indem er seinen Studenten definitive Betrachtungen über das absolut Böse an den Kopf schmiss, die ein Landpfarrer nicht in Abrede gestellt hätte, selbst wenn er sie mit einer beachtenswerten Anzahl an Referenzen und Zitaten schmückte, die weder dazu geeignet waren, deren konzeptuelle Leere zu füllen noch deren absolute Trivialität zu kaschieren. Und dieses ganze moralische Ausschweifen stand obendrein noch im Dienste eines bravourös zynischen Ehrgeizes, es war vollkommen offensichtlich, dass die Universität für ihn nur eine notwendige, aber unbedeutsame Stufe darstellte auf seinem Weg hin zur Weihe der Fernsehauftritte, wo er öffentlich mit seinesgleichen den Namen der Philosophie entwürdigen würde unter den Blicken der weich gestimmten Augen ungebildeter und beglückter Journalisten, denn Journalismus und Kommerz dienten inzwischen als Ersatz für Denken, Libero konnte daran gar nicht mehr zweifeln, und er war wie ein Mensch, der nach unerhörten Anstrengungen soeben ein Vermögen gemacht hatte in einer Währung, die keine Gültigkeit mehr besaß. Gewiss war die Haltung des Professors nicht repräsentativ für die anderen Lehrenden, welche ihre Arbeit mit strenger Rechtschaffenheit ausübten, was ihnen Liberos Respekt einbrachte. Grenzenlos bewunderte er einen Doktoranden, der in beigefarbener Kordhose und flaschengrüner Jacke mit Goldknöpfen, die aus einem Lager der Stasi zu stammen schien und seine Gleichgültigkeit gegenüber allem Materiellen bewies, jeden Donnerstag zwischen achtzehn und zwanzig Uhr unerschütterlich das Buch Gamma der
Metaphysik
für ein mageres, hartnäckiges und aufmerksames Publikum von Gräzisten übersetzte und kommentierte. Aber die fromme Atmosphäre, die im verstaubten Saal des Aufgangs C, wohin man sie verbannt hatte, regierte, konnte das Maß ihres Debakels nicht verhehlen, sie alle waren Besiegte, unangepasste und bald schon unverständliche Wesen, die Überlebenden einer heimtückischen Apokalypse, die ihre Mitstreiter dezimiert und die Tempel der Gottheiten, die sie bewunderten und deren Licht sich einst über die Welt verbreitet hatte, in den Dreck gezogen hatte. Eine ganze Zeit lang liebte Libero seine Leidensgenossen. Es waren redliche Menschen. Ihre gemeinsame Niederlage war ihr Ehrentitel. Es musste möglich sein, so zu tun, als wäre nichts geschehen, und weiterhin ein entschieden unzeitgemäßes Leben zu führen, das ganz und gar der Verehrung profaner Reliquien gewidmet war. Libero glaubte noch immer, dass seine Ehrbarkeit ins Giebelwerk eines hohen und reinen Himmels eingeschrieben sei, und wenig zählte, dass dessen Existenz niemandem bekannt war. Es war notwendig, allen vom Gift der Aktualität wundbrandigen Fragen der Moral und Politik abzuschwören und sich in die kargen Wüsten der Metaphysik an der Seite von Autoren zu flüchten, von denen ausgeschlossen war, dass sie eines Tages die Beschmutzung durch journalistisches Interesse auf sich ziehen würden. Er entschied, seine Abschlussarbeit über Augustinus zu schreiben. Matthieu, dessen unveränderliche Freundschaft häufig die Form einer knechtischen Zustimmung annahm, wählte Leibniz und verlor sich ohne Überzeugung in den schwindelerregenden Labyrinthen des göttlichen Verstandes, im Schatten der unfassbaren Pyramide der möglichen Welten, wo seine ins Unendliche vervielfältigte Hand sich schließlich auf Judiths Wange legte. Libero las die vier Predigten auf den Untergang Roms mit dem Gefühl, einen Akt höchsten Widerstands zu leisten, und er las
Vom Gottesstaat
, aber in dem Maße, wie die Tage kürzer wurden, verwässerten sich seine letzten Hoffnungen im regenschweren Nebel, der auf die feuchten Gehwege drückte. Alles war traurig und schmutzig, nichts anderes war eingeschrieben in den Himmel als Versprechungen auf Unwetter und Sprühregen, und die Widerstandskämpfer waren ebenso hassenswert wie die Sieger, sie waren keine Schweinehunde, aber Hanswurste und Versager, er selbst vorneweg, die man dazu herangebildet hatte, Dissertationen und Kommentare zu produzieren, die genauso unnütz waren wie untadelig, denn die Welt hatte zwar möglicherweise einen Augustinus und einen Leibniz noch nötig, aber nichts war so unbedeutsam wie ihre Exegeten, und Libero war

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