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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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inzwischen voller Verachtung sich selbst gegenüber, voller Verachtung gegen all seine Professoren, Schreiberlinge und Philister ohne Unterschied, gegen seine Mitschüler, angefangen bei Judith Haller, mit der weiterhin Kontakt zu halten, obgleich sie ununterbrochen zwischen Dummheit und Pedanterie schwankte, er Matthieu übel nahm, nichts entging den stürmischen Fluten seiner Verachtung, selbst Augustinus nicht, den er nun nicht mehr ertragen konnte, jetzt, da er sich sicher war, ihn besser verstanden zu haben als je zuvor. Er sah in ihm nur noch einen unkultivierten Barbaren, der sich über das Ende des Weltreiches freute, denn dieses markierte die Thronbesteigung der Welt von Durchschnittsmenschen und triumphierenden Sklaven, zu denen er selber zählte, seine Predigten trieften vor rachsüchtigem und perversem Wohlbehagen, die alte Welt der Götter und Dichter verschwand unter seinen Augen, überflutet vom Christentum mit seiner abscheuerregenden Kohorte von Asketen und Märtyrern, und Augustinus kaschierte seinen Jubel mit heuchlerischen Tonlagen der Weisheit und des Mitgefühls, wie bei Pfaffen üblich. Libero stellte seine Abschlussarbeit mehr schlecht als recht fertig und befand sich in einem derartigen Zustand moralischer Erschöpfung, dass die Weiterführung seiner Studien unmöglich geworden war. Als er erfuhr, dass Bernard Gratas seinen Prozess der Verwahrlosung mit Bravour zu Ende gebracht hatte, wusste er, dass sich ihm eine einzigartige Möglichkeit bot, und er sagte zu Matthieu, dass sie die Pacht der Bar unbedingt übernehmen müssten. Matthieu war selbstverständlich begeistert. Als sie zu Sommerbeginn im Dorf ankamen, hatte Bernard Gratas Marie-Angèle soeben verkündet, dass es ihm aufgrund unverschuldeter, aber dem Poker zu verdankenden Verluste unmöglich war, die Pacht zu bezahlen, und die erneuten Ohrfeigen, die er von Vincent Leandri erhielt, konnten daran auch nichts ändern. Marie-Angèle nahm die Nachricht als Schicksalsschlag auf. Inzwischen aller Hoffnung bar, die Situation überhaupt noch verbessern zu können, zog sie sogar in Betracht, Gratas die Bar, anstatt ihren Betrieb wieder in eigene Hände zu nehmen, bis September zu überlassen, dass der ihr so zumindest einen Teil der Schulden zurückzahlen könnte. Libero und Matthieu kamen auf sie zu und boten ihre Dienste an. Sie sah gern ein, dass die beiden es kaum schlimmer treiben konnten als ihre Vorgänger. Aber wie sollten sie das Geld auftreiben? Sie vertraute ihnen, sie kannte sie seit ihrer Kindheit und wusste, dass sie nicht die Absicht hegten, sie zu betrügen, aber die Situation verlangte, dass sie sich von irgendetwas ernähren und also unweigerlich im Vorhinein bezahlt werden musste. Libero gelang es, zweitausend Euro zusammenzukratzen, indem er vor seinen Geschwistern seine Sache verteidigte. Matthieu teilte sein Vorhaben eines Abends im Juli am Familientisch mit. Claudie und Jacques legten ihr Besteck nieder. Sein Großvater aß weiterhin sorgfältig seine Suppe.
    »Glaubst du, dass wir dir Geld geben werden, damit du dein Studium abbrechen und Wirt werden kannst? Glaubst du das wirklich?«
    Er versuchte, seine Sache zu verteidigen, indem er Argumente nannte, die er für unwiderlegbar hielt, seine Mutter aber schnitt ihm brutal das Wort ab.
    »Sei still!«
    Sie war blass vor Zorn.
    »Verlass sofort diesen Tisch! Ich habe keine Lust mehr, dich zu sehen.«
    Er fühlte sich erniedrigt, gehorchte ihr aber wortlos. Er rief seine Schwester an, um deren Unterstützung zu erbetteln, aber es gelang ihm nicht, Gehör zu finden. Aurélie platze los vor Lachen.
    »Was für ein Scheiß! Dachtest du wirklich, Maman würde vor Freude in die Luft springen?«
    Matthieu versuchte erneut, sich zu verteidigen, aber sie hörte ihm nicht zu.
    »Werd’ endlich erwachsen! Du gehst einem langsam auf die Nerven.« Er traf sich mit Libero, um ihm die schlechte Nachricht mitzuteilen, und die beiden tranken sich traurig unter den Tisch. Als Matthieu am nächsten Tag gegen Mittag erwachte, mit einer Migräne, die ebenso sehr der Enttäuschung wie dem Alkohol geschuldet war, saß sein Großvater an seinem Bett. Matthieu setzte sich beschwerlich auf. Marcel schaute ihn mit ungewöhnlicher Gewogenheit an. »Du möchtest herziehen und dich um die Bar kümmern, mein Junge?«
    Matthieu stimmte mit undeutlichem Kopfnicken zu.
    »Höre, was ich tun werde! Ich werde die Pacht für dieses Jahr zahlen und ich werde sie auch noch fürs nächste Jahr übernehmen.

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