Untergang
hatte seine Beine aufgeschürft und am Schambein eine blutende Schnittwunde. Libero näherte sich Virgile und fiel auf die Knie. Es lagen Hirn und Blut auf dem Asphalt und die Leiche war noch erschüttert von Krämpfen, die bald endeten. Libero bedeckte sich die Augen und würgte ein Schluchzen ab. Er stand plötzlich auf, um Pierre-Emmanuels Wunde anzusehen, und ließ sich dann wieder bei Virgile nieder, dessen Hand er nahm, um sie an seine Lippen zu führen. Pierre-Emmanuel stöhnte noch immer von Zeit zu Zeit, Libero sagte ganz sanft zu ihm: »Halt’s Maul, du hast nichts, halt’s Maul«, und er bedeckte schluchzend seine Augen, bevor er wiederholte: »Halt’s Maul«, und leicht seine Pistole auf Pierre-Emmanuel richtete, der ohne Unterlass »Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße« psalmodierte, und Matthieu sah sie an, starr unter dem Mond. Ein weiteres Mal war die Welt von der Finsternis eingeholt worden und nichts war von ihr geblieben, nicht eine einzige Spur. Ein weiteres Mal stieg die Stimme des Blutes vom Boden auf zu Gott, im Jubelgesang zerschlagener Knochen, denn kein Mensch ist seines Bruders Hüter, und so tief war bald schon wieder die Stille, dass der schwermütige Ruf der Eule in einer Sommernacht vernommen werden konnte.
Predigt auf den Untergang Roms
Aurélie sitzt nahe dem Bett, in welchem ihr Großvater ruht. Er kann sich unbeschwert seinen dunklen Träumen eines Sterbenden hingeben, denn sie späht für ihn nach der Ankunft des Todes und keine Müdigkeit verdunkelt ihre Wächteraugen. Die Ärzte haben Marcel Antonetti das unerhörte Privileg zugestanden, zu Hause zu sterben. Sie konnten gegen die Krankheit ankämpfen, aber nicht gegen den Dämon äußersten Alters, den unvermeidlichen Zusammenbruch eines zerfallenen Körpers. Der Magen füllt sich mit Blut. Das Herz setzt aus unter dem Ansturm seiner eigenen Schläge. Mit jeder Einatmung lässt die klare Luft das ausgetrocknete Fleisch erglühen, das sich wie Myrrhe verzehrt. Zweimal täglich kommt eine Krankenschwester und wechselt die Infusionen und misst das Maß des Zerfalls. Virginie Susini bringt aus der Bar die Mahlzeiten, die Bernard Gratas für Aurélie vorbereitet hat. Marcel hat seit dem Vorabend jegliche Nahrungsaufnahme verweigert. Claudie und Matthieu haben den Flieger genommen und werden im Laufe des Tages ankommen. Aurélie hätte es lieber gesehen, sie wären nicht gekommen, aber Matthieu hatte darauf bestanden. Judith würde so lange wie nötig allein mit den Kindern in Paris bleiben. Innerhalb von acht Jahren war er nur ein einziges Mal nach Korsika zurückgekehrt, um bei Liberos Prozess vor dem Schwurgericht von Ajaccio als Zeuge auszusagen, er hat aber kein einziges Mal mehr den Fuß ins Dorf gesetzt. Er hat sich nicht verändert. Er glaubt noch immer, dass es reicht, den Blick abzuwenden, um ganze Teile seines Lebens ins Nichts zurückzuschicken. Er glaubt noch immer, dass das, was man nicht sieht, auch aufhört zu sein. Wenn Aurélie auf ihr boshaftes Herz gehört hätte, sie hätte ihm gesagt, er möge bleiben, wo er war. Es sei zu spät. Er könne es sich schenken, herzukommen und die Komödie der Erlösung zu spielen. Aber sie hat nichts gesagt und sie wartet. Im Zimmer sind die Läden halb geschlossen. Sie will nicht, dass das zu grelle Licht die Augen ihres Großvaters verletzt. Sie will aber auch nicht, dass er im Finstern stirbt. Von Zeit zu Zeit öffnet er die Augen und dreht ihr den Kopf zu. Sie nimmt seine Hand.
Meine Kleine. Meine Kleine.
Er hat keine Angst. Er weiß, dass sie da ist, dass sie für ihn nach der ruhigen Ankunft des Todes späht, und er sinkt zurück in sein Kissen. Aurélie lässt seine Hand nicht los. Der Tod wird vielleicht vor Matthieu und Claudie kommen, im Schutz ihrer innigen Einheit, und wenn er da sein wird, wird er mit Marcel zugleich jene Welt hinwegtragen, die nur durch ihn noch lebt. Von dieser Welt wird nur eine Photographie zurückbleiben, aufgenommen im Sommer 1918, aber Marcel wird nicht mehr da sein, sie zu betrachten. Es wird kein Kind mehr geben im Matrosenanzug, kein kleines vierjähriges Mädchen, auch keine rätselhafte Abwesenheit, sondern nur eine Anordnung lebloser Flecken, deren Sinn niemand mehr verstehen wird. In Wahrheit wissen wir nicht, was die Welten sind. Aber wir können die Zeichen ihres Endes erspähen. Der Auslösemechanismus einer Blende im Sommerlicht, die feine Hand einer müden jungen Frau, die diejenige ihres Großvaters hält, oder das
Weitere Kostenlose Bücher