Lektionen der Leidenschaft: Roman (German Edition)
1
1856 , London
V iscount Thomas Armstrong richtete sich kerzengerade auf. Seine Hände umfassten die geschwungenen Lehnen des Sessels, während er Harold Bertrams Worte verdaute. Obwohl der Marquess of Bradford seine Anfrage mit einer Ernsthaftigkeit vorgebracht hatte, wie man sie sonst vielleicht bei einem Geistlichen während einer Beerdigung kannte, flehte Thomas inständig, dass er sich verhört haben möge.
» Wie lautet der Wunsch, den ich dir erfüllen soll?« Obwohl Thomas sanft und ruhig sprach, peitschte die Frage durch die Luft, als ob jemand ein Gewehr abgefeuert hätte.
Der väterliche Freund lachte trübsinnig und warf einen raschen Blick auf die Tür des Herrenzimmers, bevor er sich wieder an Thomas wandte. » Ich… ich bitte dich darum, dass du meine Tochter in deine Obhut nimmst, solange ich mich in Amerika aufhalte.«
Es war bereits die zweite unsägliche Anfrage in ebenso vielen Tagen, die Thomas über sich ergehen lassen musste.
Just am Tag zuvor hatte ein Mitglied des Oberhauses ihm ein Angebot unterbreitet, das manch ehrlichen Menschen unverzüglich auf die Bahn des Verderbens zu schleudern vermochte. Niemals hätte Thomas es für möglich gehalten, dass es noch schlimmer kommen könnte.
Er irrte sich.
Das, worüber Harry sprach, drehte sich nicht um Politik oder tausend Pfund Schmiergeld wie die erste Offerte. Nein, es war hundertmal schlimmer.
» Es wäre bis, äh, bis Neujahr, es sei denn, ich kann meine Verhandlungen früher abschließen.«
Harold Bertram, dem Marquess of Bradford – oder Harry, wie enge Bekannte ihn zu nennen pflegten –, fehlte es nicht an Verstand, obwohl man in diesem Moment durchaus daran zweifeln konnte. In finanziellen und geschäftlichen Angelegenheiten besaß er sogar den schärfsten Verstand weit und breit, und er konnte sich, sofern ihm nicht gerade alles außer Kontrolle geriet, mit einer Eloquenz ausdrücken, wie manch ein Schriftsteller sie niemals erreichte. Seine neunzehnjährige Tochter allerdings war in der Lage, ihn an den Rand der Verzweiflung zu treiben. Doch sie schien selbst die Nerven eines schlachterprobten Soldaten aufreiben zu können, wie Thomas aus eigener Erfahrung wusste.
Er zog die Brauen hoch und starrte den Marquess, der verdächtig stumm geworden war, unverwandt an. In der Tat, Harry musste vorübergehend den Verstand verloren haben. So weit hatte das freche Ding ihn also inzwischen gebracht.
» Falls das ein Witz sein soll, lass dir gesagt sein, dass ich ihn nicht besonders amüsant finde«, erwiderte Thomas, als er sich so weit erholt hatte, dass er wieder sprechen konnte. » Ich verstehe dich doch richtig, dass wir uns über Lady Amelia unterhalten, oder? Es sei denn, du hast irgendwo noch eine andere Tochter versteckt, die nicht so respektlos und streitsüchtig ist wie besagte junge Dame.«
Es folgte ein unbehagliches Räuspern, gefolgt von einem abgrundtiefen, erschöpften Seufzen. » Himmel, vielleicht hast du ja eine Idee, was ich mit ihr anstellen soll? Wenn ich sie mitnehme, habe ich weder die Zeit noch die Kraft, sie davon abzuhalten, überall Unheil anzustiften. Ganz besonders in einem Land, mit dem ich nicht vertraut bin. Zurzeit bist du der einzige Mensch, dem ich so viel Vertrauen entgegenbringe, dass ich mich in dieser Angelegenheit an ihn wenden könnte. Ja, wenn die Reise nicht so bedeutsam wäre, würde ich versuchen, meinen Terminplan zu ändern…« Harry brach ab und blickte ihn flehentlich an.
Bei diesen Worten überkam Thomas ein Anflug von schlechtem Gewissen. Nicht lange, nur wenige Sekunden, aber immerhin. Seiner Einschätzung nach waren die Strapazen einer Geschäftsreise nach Amerika nicht mit jenen vergleichbar, die man auf sich nahm, wenn man Harrys widerspenstige Tochter beaufsichtigte.
Thomas beugte sich vor und krallte die Finger in die gepolsterte Armlehne. » Ich würde es als geringere Zumutung empfinden, falls du mich bitten würdest, stellvertretend für dich den Platz unter der Guillotine oder am Galgen einzunehmen.«
Harrys Augenbrauen zogen sich zusammen, und die Mundwinkel in dem bärtigen Gesicht zuckten leicht. » Ich will offen mit dir sprechen. Meine Tochter scheint wild entschlossen, mich möglichst frühzeitig ins Grab zu bringen. Sie hat es fertiggebracht, sich mit einem weiteren Tunichtgut einzulassen. Und diesmal wäre ich um ein Haar gezwungen gewesen, den nichtswürdigen Clayborough als meinen Schwiegersohn anzuerkennen, wenn mein Kammerdiener nicht aufgepasst und das
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