Untergrundkrieg
unserer Gesprächspartner mit höchstem Respekt zu behandeln. Also hieß ein Nein eben wirklich nein.
Mit anderen Worten: Alle Ausführungen in diesem Buch sind vollkommen freiwillige Beiträge, und ich freue mich sagen zu können, dass die meisten der Beteiligten damit einverstanden waren, ihren richtigen Namen zu verwenden und damit ihren Worten umso größeres Gewicht zu verleihen: ihren Worten, ihrem Zorn, ihren Vorwürfen, ihren Leiden … Dies soll keinesfalls eine Herabsetzung derjenigen bedeuten, die sich aus persönlichen Gründen zu einem Pseudonym entschlossen haben.
Zu Beginn jedes Interviews habe ich meinen Gesprächspartnern Fragen zu ihrem persönlichen Hintergrund gestellt. Wo geboren, wo aufgewachsen, ihre Ausbildung, ihre Vorlieben, ihre Arbeit, ihre Familie usw. Besonders ausführlich habe ich mit ihnen meist über ihre Arbeit gesprochen. Auf diese Weise wollte ich jedem »Opfer« ein individuelles Gesicht geben, denn gesichtslos sollten diese lebendigen Menschen in meinem Buch auf keinen Fall werden. Vielleicht ist das eine Berufskrankheit von uns Schriftstellern, aber ich habe kein besonderes Interesse am so genannten »großen Ganzen«. Mich interessiert vor allem der konkrete, einzelne Mensch. Daher habe ich versucht, während des größten Teils der durchschnittlich zweistündigen Interviews möglicherweise auch unerhebliche Details zusammenzutragen, mit dem Ziel, den Lesern den Menschen, mit dem sie es zu tun haben, näher zu bringen. Aus diesem Grund konnten wiederum viele Details aus den Interviews am Ende nicht gedruckt werden.
Die Medien hatten die Öffentlichkeit mit unzähligen Profilen der »Attentäter« bombardiert und damit einen so widerspruchsfreien, verlockenden Mythos geschaffen, dass die Durchschnittsbürger – das heißt die »Opfer« – beinahe zur Nebensache geworden waren. Sie wurden auf die Rolle eines »Passanten A« reduziert, und nur sehr selten interessierte sich jemand für ihre Geschichte. Die wenigen Geschichten von Betroffenen, die bekannt wurden, entsprachen ausnahmslos einem Schema, das auf das Bild eines »unschuldigen japanischen Dulders« abzielte. Ein Schema funktioniert entschieden besser, wenn man es nicht mit konkreten Gesichtern zu tun hat, getreu dem klassischen Gegensatz zwischen »(gesichtsloser) gesunder Bevölkerung« und den »(konkreten) Schurken«.
Wenn irgend möglich, wollte ich jedes Schablonendenken vermeiden. Die Fahrgäste, die an jenem Morgen die U-Bahn bestiegen, hatten individuelle Gesichter, Leben, Familien, Freuden, Probleme, eine Geschichte und Widersprüche, die in ihrer Geschichte eine Rolle spielen sollten. Dazu musste ich unbedingt jeden Einzelnen von ihnen persönlich kennen lernen.
Erst wenn ich über diese individuellen Informationen verfügte, wollte ich zur Schilderung der Ereignisse am Tag des Anschlags übergehen. »Wie haben Sie diesen Tag erlebt?« »Was haben Sie gesehen, was gefühlt? Welche Erfahrung war damit für Sie verbunden?« Und auch: »Welche Schäden (physischer oder psychischer Natur) haben Sie durch den Sarin-Anschlag erlitten?« »Handelte es sich um Langzeitschäden, die eventuell noch andauern?«
Die Schwere der durch den Anschlag erlittenen Beeinträchtigungen war sehr unterschiedlich. Einige waren mit einem blauen Auge davongekommen, während andere Unglückliche gestorben waren oder noch immer wegen schwerwiegender gesundheitlicher Störungen in Behandlung sind. Zahlreiche Personen, die zunächst keine nennenswerten Symptome zeigten, haben seither eine posttraumatische Störung entwickelt.
Ich sprach auch mit Augenzeugen, die verhältnismäßig leicht verletzt worden waren und natürlich rascher in ihren Alltag zurückgefunden hatten, aber auch sie machten sich Gedanken, hatten ihre Ängste und ihre Lehren mitzuteilen. In dieser Hinsicht habe ich als Herausgeber keine Auswahl getroffen.
Schließlich wollte ich nicht auf die Aussage einer Person verzichten, weil sie nur leicht verletzt wurde. Für alle Zeugen war der 20. März ein einschneidender und schwerer Tag. Zudem hatte ich den Anspruch, ein durchschnittliches Bild aller Betroffenen zu zeigen, das sich nicht an der Schwere ihres Traumas orientierte. Ich möchte es Ihnen als Lesern überlassen, zuzuhören und sich ein Bild zu machen. Dabei werden Sie ohne Ihre Vorstellungskraft nicht auskommen.
Der Anschlag ereignete sich am Montag, den 20. März 1995, einem wunderschönen klaren Frühlingsmorgen. Es weht ein frischer Wind, und die
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