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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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meisten Leute sind in Mäntel gehüllt. Der Tag davor war ein Sonntag, der folgende ist ein Feiertag – Frühlingsanfang. Viele haben sich zwischen den beiden Feiertagen frei genommen, aber nicht alle hatten dieses Glück. Sie stehen auf, gehen ins Bad, ziehen sich an und machen sich auf den Weg zur U-Bahn, die genauso voll ist wie immer. Noch ist es ein Tag wie jeder andere. Bis in verschiedenen U-Bahnen fünf Männer mit den geschärften Spitzen ihrer Schirme ein paar mit einer sonderbaren Flüssigkeit gefüllte Plastikbeutel perforieren …

ERSTER TEIL

    UNTERGRUND

CHIYODA-LINIE
Zugnummer A 725 A
    Die beiden Männer, die den Auftrag hatten, Sarin in einem Wagen der Chiyoda-U-Bahnlinie freizusetzen, hießen Ikuo Hayashi und Tomomitsu Niimi. Hayashi war der ausführende Täter, Niimi sein Gehilfe.
    Warum Hayashi, ein erfahrener Arzt und wichtiger Mann im Ministerium für Wissenschaft und Technik der Aum-Sekte, mit dieser Aufgabe betraut wurde, ist unklar. Er selbst behauptet, es sei geschehen, um ihn zum Schweigen zu bringen, da natürlich nach einer Beteiligung an dem Anschlag kein Entkommen aus der Sekte mehr möglich war. Zu diesem Zeitpunkt war Hayashi bereits ein Mann, der zu viel wusste. Obwohl er dem Sektenführer Shoko Asahara zutiefst ergeben war, misstraute ihm dieser. Als Asahara ihm befahl, Sarin freizusetzen, habe Hayashi das Herz in der Brust zum Zerspringen geklopft. »Andererseits – wo sonst hätte es klopfen sollen?« fügte er hinzu.
    Hayashi stieg um 7.48 in den ersten Waggon der aus Kita-Senju kommenden Chiyoda-Linie ein, die in Richtung Yoyogi-Uehara fuhr, durchstach an der Station Shin-Ochanomizu den Beutel mit dem Sarin und stieg aus. Niimi wartete vor dem Bahnhof in einem Wagen auf ihn, und gemeinsam fuhren sie zum Ajid in Shibuya zurück – ihre Mission war beendet. Hayashi hätte sich unter keinen Umständen weigern können. »Es ist nur eine Mahamudra«, versuchte er sich immer wieder selbst zu beruhigen. Die Mahamudra war in der Praxis der Aum-Sekte eine entscheidende Übung auf dem Weg, ein »Wahrhaft Erleuchteter Meister« zu werden.
    Als Asaharas Rechtsberater Hayashi fragten, ob er sich überhaupt hätte weigern können, gab er zur Antwort: »Dann wäre es doch nie zu diesem Anschlag gekommen.«
    Ikuo Hayashi wurde 1947 als zweiter Sohn eines praktischen Arztes in Shinagawa geboren, besuchte die Keio-Mittel- und Oberschule, um an der Keio-Universität, einer der beiden privaten Spitzenhochschulen in Tokyo, Medizin zu studieren. Anschließend arbeitete er als Herz- und Gefäßchirurg in der Keio-Universitätsklinik. Später wurde er Chefarzt der Abteilung für Herz- und Gefäßerkrankungen am Staatlichen Reha-Klinikum in Tokaimura, Präfektur Ibaragi, und gehörte damit einer gesellschaftlichen Elite an. Hayashi ist ein gut aussehender Mann mit scharfen Gesichtszügen und einem schütteren Haaransatz. Er strahlt das professionelle Selbstbewusstsein eines erfahrenen Arztes aus. Die medizinische Laufbahn schien seinem Naturell zu entsprechen. Wie bei den meisten Angehörigen der Aum-Führungsriege ist seine Haltung aufrecht und sein Blick geradeaus gerichtet. Seine Stimme klingt monoton und unnatürlich. Während seiner Aussage vor Gericht erweckte er den Eindruck eines Menschen, der mit großer Anstrengung ständig einem drohenden Gefühlsausbruch Einhalt gebieten muss.
    Mitten in seiner glänzenden Karriere trat Hayashi der Aum-Sekte bei, kündigte 1990 seine Stelle und verließ seine Familie. Seine beiden Kinder sollten später eine besondere Ausbildung innerhalb der Sekte erhalten. Die Reha-Klinik wollte einen Mann von Hayashis Fähigkeiten nicht verlieren und versuchte ihn zurückzuhalten, aber er war fest entschlossen. Offenbar bedeutete ihm der Beruf des Arztes nichts mehr. Als Mitglied der Sekte wurde er von Asahara, der viel für Eliten übrig hatte, geschätzt und zum »Minister für Heilung« ernannt.
    Nachdem Ikuo Hayashi mit der Ausführung des Anschlags beauftragt worden war, wurde er am 20. März in das Aum-Hauptquartier Satyam 7 in Kamikuishiki gebracht, wo er mit den vier anderen Attentätern probte, die Beutel mit dem Sarin zu durchstechen. Statt Sarin enthielten die Plastikbeutel, die mit Hilfe von eigens mit einer Schleifmaschine geschärften Schirmspitzen durchstoßen wurden, nur Wasser. Überwacht wurde das Manöver von Hideo Murai. Anscheinend hatten die anderen vier Sektenmitglieder Spaß an der Übung, während Hayashi ihr Verhalten eher distanziert

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