Unterland
die Damen herum und nahm ihnen die Mäntel ab, er machte kleine Komplimente, er lachte laut, und noch an der Garderobe merkte ich, wie sich in meinem Magen etwas zusammenballte, was nichts mit Hunger oder Schwäche zu tun hatte. Sollte jemand, der verschwinden und seine ganze Familie zum Lügen zwingen musste, nicht wenigstens den Anstand haben, zerknirscht zu sei n …?
Ein langer, festlich gedeckter Tisch und zwei Kellner erwarteten uns, die Restaurantfenster verhängt, damit unser Gelage der Außenwelt verborgen blieb. Die kleinen Wranitzkys zählten mit hervortretenden Augen. »Jeder hat zwei Teller und zwei Bestecke!«, hörte ich sie einander zuflüstern. »Es gibt zwei Portionen!«
Ich hätte eine Menge darum gegeben, zu wissen, was Henry dachte. Sein Gesicht war blass, wie gewohnt, nicht mehr und nicht weniger in sich gekehrt als sonst. Er hat es doch nicht getan, dachte ich, er kann es nicht getan haben, sonst wären wir jetzt nicht hier!
Am Gartentor hatte ich ihn vor drei Tagen aufzuhalten versucht, am Arm gerissen, gebettelt: »Geh nicht! Willst du, dass sie alle ins Gefängnis kommen?«
Es ist ein Leichtes, jemanden abzuschütteln, der an Krücken geht, aber mein Bruder hatte es nicht getan, ich hatte von selbst losgelassen, als er sagte: »Du solltest besser mitkommen.«
»Das sind meine Freund e …!«
»Das glaubst du immer noch?«
Ja, das glaubte ich immer noch, und ich hatte mich wortlos umgedreht und war zurück zum Haus gegangen, um nicht sehen zu müssen, wie Henry hinter dem Tommy-Zaun verschwand, genau wie damals, und wie damals ging mein Blick hinauf zum Fenster der Wollanks im ersten Stock. Der Kerzenständer, den sie im Frühjahr aufgestellt hatten, war verschwunden, das Fenster leer und dunkel und ich konnte nichts dagegen tun: Schon auf dem Weg zum Haus befielen mich Zweifel, ob Henry nicht Recht hatte.
Sollte ich ihm nachlaufen? Einen Augenblick schien es mir sogar verlockend: Wenn wir Herrn Helmand verrieten, musste Nora ihn nicht heiraten!
Aber dan n … was würden die Tommys mit ihr machen? Gab es noch etwas, das wir nicht wussten? Und ein zweites Mal würden sie Wim bestimmt nicht vergessen, wenn sie seine Mutter ins Gefängnis steckten. Diesmal, da war ich ganz sicher, käme er in ein Heim.
Ich ging ins Haus, ich schob die Tür ganz fest hinter mir zu, ich legte mich auf meine Matratze, zog die Decke über den Kopf und wartete.
Aber Henry musste es sich anders überlegt haben. Niemand war mit ihm zurückgekommen, um Wollanks zu holen, auch in den drei Tagen nicht, die seitdem vergangen waren, und wenn Herr Helmand nicht eine solche Nervensäge gewesen wäre, hätte ich vielleicht endlich aufhören können zu grübel n …!
Unbehaglich sah ich zu, wie er Ooti den Stuhl neben Nora erst zurückriss, dann mit Schwung unter den Hintern schob. Wotan, der jüngste Wranitzky, musste unter den Tisch kriechen, um den Schuh wieder aufzulesen, den sie dabei verlor; er stimmte ein panisches Geheul an, als seine Mutter ihn, kaum dass er sich gesetzt hatte, wieder zum Aufstehen aufforderte, offenbar glaubte er, er solle um sein Essen gebracht werden. Blitzschnell holte die Wranitzky, während alle durch Wotan abgelenkt waren, einen Emailletopf aus ihrer großen Tasche und klemmte ihn sich zwischen die Knie für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass Reste blieben.
Wim hatte sich nicht lumpen lassen. Der erste Gang bestand aus einer Pilzsuppe, danach folgte Braten vom schwarz geschlachteten Schwein mit Rotkohl, Kartoffeln und Soße. Es gab Schokoladenpudding, frisches Obst aus dunklen Quellen, für uns Kinder Limonade und für die Erwachsenen sowohl geschmuggelten Sekt und Wein als auch einen echten, starken, nur in schweigender Andacht zu trinkenden Kaffee. Überhaupt wurde beim Essen so gut wie nicht geredet, da jeder mit langsamem Kauen, Genießen und Erinnern übermäßig beschäftigt, ja fast schon überfordert war; erinnern an eine Zeit, in der Mahlzeiten noch Mahlzeiten und nicht bloß Kalorien gewesen waren. Frau Bolle wühlte es im Stillen dermaßen auf, dass sie fortwährend ihr Besteck beiseitelegen und sich mit ihrer Serviette betupfen musste.
Das Festessen war unser Lohn, weil wir wie vorgesehen unsere Rollen gespielt hatten. Wir waren ihr Alibi, ihre Trauzeugen , weniger Gäste als Statisten in der Inszenierung, die sie uns monatelang vorgeführt hatten; sie hatten es sogar geschafft, dass niemand fehlte und wir noch einmal alle versammelt waren, bevor der Vorhang fiel.
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