Unterland
einer der letzten milderen Tage werden, hatte das Radio vorhergesagt, dennoch kroch die Kälte augenblicklich unter mein Kleid, obwohl Sandra mir ein Paar Strümpfe geliehen hatte.
»Wehe, du zerreißt sie!«, hatte sie gedroht. »Und ich will sie gewaschen zurück.«
Ich war überrascht, dass Sandra und Brigitte tatsächlich mitkamen. Sie hatten sich von uns zurückgezogen, wir bekamen sie kaum noch zu Gesicht; jeder im Haus hatte sich angewöhnt, taktvoll nicht einmal mehr nach ihnen zu fragen. In ihren hohen Schuhen stöckelten hinter uns her, untergehakt und stumm.
Vor dem Standesamt wartete bereits der arme Leo mit Hektor, der es sich hatte gefallen lassen müssen, dass man in seinen albernen kurzen Schweif auch noch eine Schleife band. Die Kutsche zu mieten hatte den armen Leo ein Fass Bier gekostet; es sollte eine Überraschung für Wim sein, dem er zeit seines Lebens zu Dank verpflichtet sein würde.
Es ging mir ein wenig besser, als ich den armen Leo sa h – einen Spieler auf unserer Seite! »Meine Damen!«, ich konnte es ihn fast sagen hören, »was bleibt dem Jungen denn übrig? Es ist sein Vater, natürlich muss er zu ihm halten, und ich will nicht derjenige sein, der ihn verpfeift!«
Kaum hatten wir uns rechts und links der Kutsche in einem Spalier aufgestellt, ging die Rathaustür auch schon auf und Nora und Herr Helmand kamen heraus, gefolgt von ihren Trauzeugen. Herr Helmand strahlte, die Worte »Am Ziel!« standen ihm wie quer übers Gesicht. Nora, wunderschön in einem fliederfarbenen Kleid mit passendem kurzen Mantel und Hut, lächelte zurückhaltender und ich fragte mich unwillkürlich, ob sie ihren Ehemann auch dann ein zweites Mal geheiratet hätte, wenn die Umstände andere gewesen wären.
Wie damals, als seine Eltern uns ihre zweite Hochzeit angekündigt hatten, wirkte Wim erleichtert und etwas erschöpft.
»Ich heiße jetzt auch Helmand«, flüsterte er mir zu, als ich ihm gratulierte. »Richard hat mich soeben adoptiert.«
Mein Glückwunsch blieb mir fast im Halse stecken, aber er war zu selig, um es zu merken.
»Und jetzt«, fuchtelte der arme Leo mit der Kamera, »stellt euch alle neben der Kutsche auf! Das Brautpaar natürlich vorn, mit Wim an der Seite seiner Mutter, und die kleinen Wranitzkys links und rechts an den Räder n …«
Er winkte und dirigierte und wir alle setzten uns folgsam in Bewegun g – alle außer dem Brautpaar, das wie angewurzelt stehen blieb.
»Ach, Herr Kindler, doch nicht auf der Straße«, murmelte Nora.
»Im Hintergrund eines der wenigen unzerstörten Gebäude Altonas, unser Rathau s …!«, protestierte der arme Leo.
»Nun kommt schon, ziert euch nicht, wir haben Hunger!«, rief die Wranitzky, die ihre Kinder bereits an den gewünschten Stellen postiert hatte, und alle lachten. Zögerlich setzte sich Familie Helmand in Bewegung, wir bauten uns um sie herum auf und der arme Leo zählte von drei rückwärts, damit die Gesellschaft ihr glückliches Lachen für den Moment aufsparte, in dem er auf den Auslöser drückte.
Als ich später das Foto sah, entdeckte ich allerdings, dass zwei Personen im Moment der Aufnahme nicht in die Kamera geblickt hatten. Die eine war Herr Helmand, der den Kopf senkte, die andere war ich, die ihn beobachtete, weil ich genau gewusst hatte, dass er versuchen würde auszuweichen.
Und mit einem Stich ins Herz würde ich Nora entdecken und mich erinnern, dass ich den ganzen Tag vermieden hatte, ihr in die Augen zu sehen. Erst auf dem Foto erkannte ich, dass sie aussah, als sei ihr alles egal, und dass sie diesen Blick schon auf der Straße gehabt hatte, noch bevor sie wusste, was passieren würde.
Hatte er jeden Schritt geplant? Falsche Papiere herstellen lassen und dafür bezahlt? Oder spontan die Gelegenheit genutzt und einem Toten den Ausweis abgenommen, der ein ebenso unauffälliges Allerweltsgesicht besessen hatte wie er selbst?
Ich wusste nicht, wie man vorging, um in eine fremde Identität zu schlüpfen, aber wenn ein echter Richard Helmand im Spiel gewesen war, dann war er mit diesem Tag von den Toten auferstanden, er war hochoffiziell, unter amtlichem Siegel neu verheiratet und Adoptivvater eines dreizehnjährigen Jungen, der seinen Namen trug. Alfred Wollank war tot, Vergangenheit; kein Standesbeamter hätte Nora neu verheiratet, wenn daran Zweifel bestanden hätten.
Kein Wunder, dass Herr Helmand nahezu ausgelassen wurde, kaum dass die Tür des Restaurants hinter uns ins Schloss gefallen war. Er tänzelte um
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