Unterland
Unser Frühstück hatte nur aus einem Becher Muckefuck bestanden, da wir an den Tagen, für die keine zusätzliche Mahlzeit aus dem Keller vorgesehen war, unsere gesamte Zuteilung von zwei Schnitten Brot abends aufaßen, um nachts nicht vor Hunger wach zu liegen. Kraft durch Schlaf sei ebenso wichtig wie Nahrung, befand Mem, und im Übrigen verbrenne der Körper im Schlaf weniger Kalorien als am Tag und wir hätten auf diese Weise mehr davon.
Henry und ich argumentierten zwar, dass es besser sei, die Ration zu verteilen, aber in dieser Sache waren Mem und Ooti sich ausnahmsweise einig. Als ich von meiner Matratze aufstand, konnte ich regelrecht spüren, wie mein Körper sich selbst verbrannte, weil er nichts anderes bekommen hatte. Hunger fängt im Bauch an, hält sich dort aber nicht auf, sondern klettert die Knochen entlang und kratzt jedes bisschen Fett ab, das dort noch herumhängt. Ich hob den rechten Arm, schlenkerte ein wenig damit und merkte, der Hunger saß an diesem Morgen unterhalb meines Ellenbogens.
Henry achtete nicht auf mich, als ich das Zimmer verließ. Bis vor zwei Tagen hatte er auf seiner Matratze noch gesessen, während er seine neuen Karl-May-Bücher las. Dann hatte er auf dem Bauch zu liegen begonnen, schließlich auf dem Rücken, das Buch mit beiden Armen über sich haltend. Seit diesem Morgen hatte er sein Kissen im Nacken, das Buch stand aufrecht auf seiner Brust und aus Henrys Decke schaute seitlich die Hand heraus, die es kraftsparend hielt. So also würde ich ihn für den Rest des Winters sehen.
Die Küchentür war geschlossen, um die Wärme im Raum zu halten; niemand von den Hausbewohnern sah mich die Treppe hinaufschleichen. Ob die Schnipsel überhaupt noch da waren? Mehrere Minuten vergingen, bis ich mich entschließen konnte, die Türklinke der Wollanks herunterzudrücken. Vergebens redete ich mir ein, es sei gar kein richtiger Einbruch, wenn man sich nur etwas aus dem Abfall holte, wenn man das Zimmer eigentlich gar nicht betrat, sondern nur zwei Schritte nach rechts ging, wo die Tonne stand!
Aber erst als ich mir die strengen Augen und zusammengekniffenen Lippen von Herrn Helmand vorstellte, der mich womöglich erwischen würde, wenn ich noch lange herumstand, holte ich endlich tief Luft und schlüpfte ins Zimmer. Nahm leise, ganz leise, die Holzscheite und Zeitungen aus der Tonne, sammelte die Papierschnipsel ein, die am Boden lagen, und steckte sie in meine Manteltasche. Und obwohl es kein richtiger Einbruch war, funktionierte mein Kopf, als ob es doch einer wäre. Ich dachte sogar kurz daran, die Zeitungen einzustecken, damit es so aussah, als hätte Nora alles zum Heizen mit nach unten genommen.
Im Übrigen, dachte ich, konnte ich sie als Unterlage verwenden und die Schnipsel daraufkleben, wenn ich sie zusammengesetzt hatte.
Den Leim bekam ich vom armen Leo. Er zwinkerte verschwörerisch, als ich ihm zu verstehen gab, es handle sich um ein Hochzeitsgeschenk. Der arme Leo gehörte zu den Leuten, die für Wollanks alles getan hätte n – wie ich.
Ein großes Haus hatten sie besessen in Aussig. Da war ein Garten mit hohen Bäumen und einer Schaukel, auf der Nora den kleinen Wim hoch in die Luft schwang.
»Was machst du da eigentlich?«, fragte Henry und schnüffelte.
»Ich klebe. Stell dir vor, der Idiot hat Noras Fotos zerrissen. Er ist wohl eifersüchtig auf seinen Vorgänger.«
Vorsichtig schnippelte ich mit der Schere am Rand des ersten Fotos entlang, dessen Teile ich zusammengesetzt hatte. Etwa ein Drittel fehlte; der Teil, auf dem vermutlich Wims Vater zu sehen gewesen war, war in so winzige Stücke zerrissen, dass er sich nicht mehr retten ließ, aber Nora mit dem kleinen Wim auf der Schaukel war immer noch ein schönes Bild. Ich ließ Leim auf das Zeitungspapier tropfen, verrieb ihn sorgfältig und setzte das Foto liebevoll darauf zusammen. Ich malte mir Noras Gesicht aus, ihre sprachlose Freude, wenn ich ihr mein Geschenk überreichte.
»Die gehören auch zusammen«, sagte Henry und griff an mir vorbei, um viel schneller als ich einige Schnipsel aus den Reihen zu picken, die ich vor mir auf dem Fußboden ausgebreitet hatte. Mein Bruder liebte Tüfteleien, und als er sich mir schräg gegenüber niederließ, freute ich mich, dass wir endlich wieder ein gemeinsames Projekt hatten.
»Wird ein Hochzeitsgeschenk, aber nichts verraten!«, bat ich.
In weißen Schlapphüten schaufelten die beiden eine Sandmauer um einen Strandkorb, von Wims Vater war immerhin noch ein
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