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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Fuß zu finden. »Ich dachte, die zwei Männer waren befreundet«, murmelte Henry, während er konzentriert einen ganz feinen Rand schnitt.
    »Tja, das ist jetzt wohl vergessen«, meinte ich und setzte einen Fotorest zusammen, auf dem Wim ein großer Papagei auf der Schulter saß. Ob ich dieses wohl behalten durft e …? Nein, gerade das Bild mit seinem Jacko würde Wim viel bedeuten, aber vielleicht fand ich ja noch ein anderes, ähnliches, das sie nicht vermissen würden!
    Beim nächsten Foto packte mich die kalte Wut, denn egal wie ich es anstellte, es gelang mir nicht, den Riss quer über Noras Gesicht zu flicken. »Der Blödmann! Hätte es nicht gereicht, ihren Mann abzureißen? Aber nein, er muss auch sie kaputt machen, er kann sie gar nicht lieben, sonst hätte er das nicht getan! Ja, ich weiß, es ist nur ein Bild, aber trotzdem, das war nicht nötig!«
    Henry antwortete nicht, ich warf einen Blick zu ihm hin und sah, dass er es geschafft hatte, eine Reihe kleinster Schnipsel zusammenzusetzen, an die ich mich gar nicht herangewagt hätte. »Das kannst du dir sparen. Wenn du die zurechtschneidest, bleibt überhaupt nichts mehr übrig«, meinte ich.
    »Alice, rück rüber«, sagte er.
    Etwas in seinem Ton bewirkte, dass ich sofort gehorchte. Vor ihm lag das bislang älteste Foto der Sammlung, Wim als Baby mit seinen Eltern, und ungläubig verblüfft schaute ich es an, schaute und schaute und verstand nicht, bis Henry es Stück für Stück umdrehte, zusammenschob und wir die dünne Bleistiftschrift lesen konnten, die auf der Rückseite gestanden hatte.
    Nora und Alfred mit Wim, 3 Monate alt.
    Ich starrte auf die Schrift, ich hätte gern etwas gesagt, aber meine Kiefer pressten sich so schmerzhaft aufeinander, als wollten sie mich nie wieder sprechen lassen.
    Neben mir pfiff Henry leise durch die Zähne. »Sieh dir das an«, flüsterte er. »Alles war ganz anders, als wir dachten!«

19

    Seit diesem Tag verstehe ich, was es mit Schachfiguren auf sich hat. Der wendige Springer, der sich Lücken sucht, das Pferd, das noch zur Seite ausbricht, der unbeirrbare Tur m … erst im Spiel merkt man, wer man ist, und dass man vielleicht ein anderer ist, als man bisher glaubte. Aber jede r – auch der Bauer, der nur kleinste Schritte wag t – muss sich bewegen. Sobald man das Spiel betritt, nimmt es seinen Lauf.
    Bestimmen jedoch kann man, auf welcher Seite man zu spielen beginnt, und so fand ich mich am Ende wie am Anfang bei Wim und Nora wieder und sah Henry zur anderen Seite des Zauns gehen. Danach geschah längere Zeit nichts. Man wartet auf den ersten Zug, man schielt nach rechts und links, um zu erkennen, auf welcher Position man steht. Doch man sieht nicht, wer im Rücken Aufstellung nimmt. Man ist Teil des Spiels, und dennoch allein.
    Die ersten Spieler, die sich am Hochzeitstag in Bewegung setzten, waren Ooti und Wim. Nora hatte Ooti gefragt, ob sie ihre Trauzeugin sein wollte, und Wim, fein herausgeputzt in einem geliehenen Anzug mit Krawatte, war Trauzeuge für Herrn Helmand, den ich immer noch so nannte, weil ich auf ihrer Seite mitspielte. Auf ihrer, nicht seiner!, versuchte ich mir einzureden, doch ein Teil von mir ahnte bereits, dass es die eine Seite nicht ohne die andere gab und ich verlieren musste, egal wie das Spiel ausging.
    Richard Helmand war Alfred Wollank. Sie hatten in Hamburg auf ihn gewartet, ihm Zeichen hinterlasse n – Kerzen im Fenster, Zettel an den Litfaßsäulen, vielleicht eine Radiobotschaf t –, sie hatten gehofft, dass er sie fand. Hatte Wim gewusst, dass sein Vater, wenn er kam, sich verstecken und einen falschen Namen annehmen musste? Mein Vater kommt nicht mehr , hatte er gesagt, aber hatte Nora ihm auch erklärt, warum?
    »Ihr dürft euch gleich ein letztes Mal satt essen, bevor der Winter beginnt«, hörte ich die Wranitzky zu ihren Kindern sagen, während wir alle vor der Klotür anstanden. »Aber bitte langsam und vernünftig, sonst gebt ihr alles wieder von euch. Helmtrud, achte auf deine Brüder! Ich will keinen von euch kotzen sehen, es wäre eine Schande um das gute Essen.«
    »Ja, Mama«, sagte Helmtrud mit undurchdringlichem Gesicht; sie wirkte konzentriert, als malte sie sich in Gedanken bereits die vollen Teller aus.
    Wir Hausbewohner, die im Standesamt nicht zugegen zu sein brauchten, brachen etwas später auf, um das Brautpaar auf der Straße mit Konfetti zu bewerfen, das wir am Abend zuvor aus alten Illustrierten von Frau Kindler geschnipselt hatten. Es würde

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