Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
Vom Netzwerk:
Wolke wäre!« »Was dann?«
    »Dann würden wir da droben segelfahren, über Wälder und Dörfer und Oberämter und Länder weg, wie schöne Schiffe. Hast du nie ein Schiff gesehen?« »Nein, Heilner. Aber du?«
    »O ja. Aber lieber Gott, du verstehst ja nichts von solchen Sachen. Wenn du nur lernen und streben und büffeln kannst!« »Du hältst mich also für ein Kamel?« »Hab' ich nicht gesagt.«
    »So dumm, wie du glaubst, bin ich noch lang nicht. Aber erzähl weiter von den Schiffen.«
    Heilner drehte sich um, wobei er ums Haar ins Wasser gestürzt wäre. Er lag nun bäuchlings, das Kinn in beide Hände gebohrt, mit aufgestützten Ellenbogen.
    »Auf dem Rhein«, fuhr er fort, hab' ich solche Schiffe gesehen, in den Ferien. Einmal sonntags, da war Musik auf dem Schiff, bei Nacht, und farbige Laternen. Die Lichter spiegelten sich im Wasser, und wir fuhren mit Musik stromabwärts. Man trank Rheinwein, und die Mädchen hatten weiße Kleider an.« Hans hörte zu und erwiderte nichts, aber er hatte die Augen geschlossen und sah das Schiff durch die Sommernacht fahren, mit Musik und roten Lichtern und Mädchen in weißen Kleidern. Der andere fuhr fort:
    »Ja, das war anders als jetzt. Wer weiß hier was von solchen Sachen? Lauter Langweiler, lauter Duckmäuser! Das schafft sich ab und schindet sich und weiß nichts Höheres als das hebräische Alphabet. Du bist ja auch nicht anders.« Hans schwieg. Dieser Heilner war doch ein sonderbarer Mensch. Ein Schwärmer, ein Dichter. Schon oft hatte er sich über ihn gewundert. Heilner arbeitete, wie jeder wußte, herzlich wenig, und trotzdem wußte er viel, verstand gute Antworten zu geben und verachtete doch auch wieder diese Kenntnisse. »Da lesen wir Homer«, höhnte er weiter, »wie wenn die Odyssee ein Kochbuch wäre. Zwei Verse in der Stunde, und dann wird Wort für Wort wiedergekäut und untersucht, bis es einem zum Ekel wird. Aber am Schluß der Stunde heißt es dann jedesmal: Sie sehen, wie fein der Dichter das gewendet hat, Sie haben hier einen Blick in das Geheimnis des dichterischen Schaffens getan! Bloß so als Soße um die Partikeln und Aoriste herum, damit man nicht ganz dran erstickt. Auf die Art kann mir der ganze Homer gestohlen werden. Überhaupt was geht uns eigentlich das alte griechische Zeug an? Wenn einer von uns einmal probieren wollte, ein bißchen griechisch zu leben, so würde er 'rausgeschmissen.
    Dabei heißt unsere Stube Hellas! Der reine Hohn! Warum heißt sie nicht >Papierkorb< oder
    >Sklavenkäfig< oder >Angströhre    »Du, hast du vorhin Verse gemacht?« fragte nun Hans. »Ja.«
    »Über was?«
    »Hier, über den See und über den Herbst.« »Zeig mir's!«
    »Nein, es ist noch nicht fertig.« »Aber wenn's fertig ist?« »Ja, meinetwegen.«
    Die zwei erhoben sich und gingen langsam ins Kloster zurück. »Da, hast du eigentlich schon gesehen, wie schön das ist?« fragte Heilner, als sie am »Paradies« vorüberkamen, »Hallen, Bogenfenster, Kreuzgänge, Refektorien, gotisch und romanisch, alles reich und kunstvoll und Künstlerarbeit. Und für was der Zauber? Für drei Dutzend arme Buben, die Pfarrer werden sollen.
    Der Staat hat's übrig.«
    Hans mußte den ganzen Nachmittag über Heilner nachdenken. Was war das für ein Mensch? Was Hans an Sorgen und Wünschen kannte, existierte für jenen gar nicht. Er hatte eigene Gedanken und Worte, er lebte wärmer und freier, litt seltsame Leiden und schien seine ganze Umgebung zu verachten. Er verstand die Schönheit der alten Säulen und Mauern. Und er trieb die
    geheimnisvolle, sonderbare Kunst, seine Seele in Versen zu spiegeln und sich ein eigenes, scheinlebendiges Leben aus der Phantasie zu erbauen. Er war beweglich und unbändig und
    machte täglich mehr Witze als Hans in einem Jahr. Er war schwermütig und schien seine eigene Traurigkeit wie eine fremde, ungewöhnliche und köstliche Sache zu genießen. Noch am Abend dieses Tages gab Heilner der ganzen Stube eine Probe seines scheckigen und auffallenden Wesens. Einer der Kameraden, ein Maulheld und kleiner Geist namens Otto Wenger, fing Streit mit ihm an. Eine Weile blieb Heilner ruhig, witzig und überlegen, dann ließ er sich zum Austeilen einer Ohrfeige hinreißen, und alsbald waren beide Gegner leidenschaftlich und unlöslich verknäuelt und verbissen und trieben wie ein steuerloses Schiff in Stößen und Halbkreisen und Zuckungen durch Hellas, an den Wänden hin, über

Weitere Kostenlose Bücher