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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Stühle weg, auf dem Boden, beide wortlos, keuchend, sprudelnd und schäumend. Die Kameraden standen mit kritischen Gesichtern
    beobachtend dabei, wichen dem Knäuel aus, retteten ihre Beine, Pulte und Lampen und warteten in froher Spannung den Ausgang ab. Nach einigen Minuten erhob sich Heilner mühsam, machte sich los und blieb atmend stehen. Er sah zerschunden aus, hatte rote Augen, einen zerrissenen Hemdkragen und ein Loch im Hosenknie. Sein Gegner wollte ihn aufs neue anfallen, er stand aber mit verschränkten Armen da und sagte hochmütig: »Ich mache nicht weiter - wenn du willst, so schlag zu.« Otto Wenger ging schimpfend weg. Heilner lehnte sich an sein Pult, drehte an der Stehlampe, steckte die Hände in die Hosentaschen und schien sich auf irgend etwas besinnen zu wollen. Plötzlich brachen ihm Tränen aus den Augen, eine um die andere und immer mehr. Das war unerhört, denn Weinen galt ohne Zweifel für das Allerschimpflichste, was ein Seminarist tun konnte. Und er tat gar nichts, es zu verbergen. Er verließ die Stube nicht, er blieb ruhig stehen, das blaß gewordene Gesicht der Lampe zugewendet; er wischte die Tränen nicht ab und nahm nicht einmal die Hände aus den Taschen. Die ändern standen um ihn herum, neugierig und
    boshaft zuschauend, bis Hartner sich vor ihn hinstellte und ihm sagte: »Du, Heilner, schämst du dich denn nicht?«
    Der Weinende blickte langsam um sich, wie einer, der eben aus einem tiefen Schlaf erwacht.
    »Mich schämen - vor euch?« sagte er dann laut und verächtlich. »Nein, mein Bester.«
    Er wischte sich das Gesicht ab, lächelte ärgerlich, blies seine Lampe aus und ging aus der Stube.
    Hans Giebenrath war während der ganzen Szene an seinem Platz geblieben und hatte nur
    erstaunt und erschrocken zu Heilner hinübergeschielt. Eine Viertelstunde später wagte er es, dem Verschwundenen nachzugehen. Er sah ihn im dunkeln, frostigen Dorment auf einem der
    tiefen Fenstersimse sitzen, regungslos, und in den Kreuzgang hinunterschauen. Von hinten sahen seine Schultern und der schmale, scharfe Kopf eigentümlich ernst und unknabenhaft aus.
    Er rührte sich nicht, als Hans zu ihm trat und am Fenster stehenblieb, und erst nach einer Weile fragte er, ohne sein Gesicht herüberzuwenden, mit heiserer Stimme: »Was gibt's?«
    »Ich bin's«, sagte Hans schüchtern. »Was willst du?« »Nichts.«
    »So? Dann kannst du ja wieder gehen.« Hans war verletzt und wollte wirklich fortgehen. Da hielt Heilner ihn zurück.
    »Halt doch«, sagte er in einem künstlich scherzhaften Ton, »so war's nicht gemeint.«
    Beide sahen nun einander ins Gesicht, und wahrscheinlich sah jeder in diesem Augenblick des andern Gesicht zum ersten Male ernstlich an und versuchte, sich vorzustellen, daß hinter diesen jünglinghaft glatten Zügen ein besonderes Menschenleben mit seinen Eigenarten und eine
    besondere, in ihrer Weise gezeichnete Seele wohne.
    Langsam streckte Hermann Heilner seinen Arm aus, faßte Hans an der Schulter und zog ihn zu sich her, bis ihre Gesichter einander ganz nahe waren. Dann fühlte Hans plötzlich mit
    wunderlichem Schreck des andern Lippen seinen Mund berühren.
    Ihm schlug das Herz in einer ganz ungewohnten Beklemmung. Dies Beisammensein im dunkeln Dorment und dieser plötzliche Kuß war etwas Abenteuerliches, Neues, vielleicht Gefährliches; es fiel ihm ein, wie entsetzlich es gewesen wäre, dabei ertappt zu werden, denn ein sicheres Gefühl ließ ihn wissen, daß dies Küssen den andern noch viel lächerlicher und schandbarer vorkommen würde als vorher das Weinen. Sagen konnte er nichts, aber das Blut stieg ihm mächtig zu Kopf, und er wäre am liebsten davongelaufen.
    Ein Erwachsener, welcher die kleine Szene gesehen hätte, hätte vielleicht seine stille Freude an ihr gehabt, an der unbeholfen scheuen Zärtlichkeit einer schamhaften Freundschaftserklärung und an den beiden ernsthaften, schmalen Knabengesichtern, welche beide hübsch und
    verheißungsvoll waren, halb noch der Kindesanmut teilhaftig und halb schon vom scheuen, schönen Trotz der Jünglingszeit überflogen. Allmählich hatte das junge Volk sich ins
    Zusammenleben gefunden. Man kannte einander, jeder hatte von jedem eine gewisse Kenntnis und Vorstellung; und eine Menge Freundschaften waren geschlossen. Es gab Freundespaare, welche miteinander hebräische Vokabeln lernten, Freundespaare, die zusammen zeichneten
    oder spazierengingen oder Schiller lasen. Es gab gute Lateiner und schlechte Rechner, die sich mit

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