Unterm Rad
Idee, dies zu benützen und sich Violinstunden geben zu lassen. Nicht daß er etwa einige Vorbildung, etwas Gehör und Talent oder auch nur irgendwelche Freude an der Musik gehabt hätte! Aber er dachte, man könne schließlich geigen lernen so gut wie Latein oder Rechnen. Die Musik war, wie er hatte sagen hören, im späteren Leben von Nutzen und machte ihren Mann beliebt und angenehm, und jedenfalls kostete die Sache nichts, denn auch eine Schulgeige stellte das Seminar zur
Verfügung. Dem Musiklehrer Haas standen die Haare zu Berg, als Lucius zu ihm kam und
Violinstunden haben wollte, denn er kannte ihn von den Singstunden her, in welchen die
Luciusschen Leistungen zwar alle Mitschüler hoch erfreuten, ihn aber, den Lehrer, zum
Verzweifeln brachten. Er versuchte dem Jungen die Sache auszureden; doch damit kam er hier an den Unrechten. Lucius lächelte fein und bescheiden, berief sich auf sein gutes Recht und erklärte seine Lust zur Musik für unbezwinglich. So bekam er denn die schlechteste der
Ubungsgeigen eingehändigt, erhielt wöchentlich zwei Lektionen und übte jeden Tag seine halbe Stunde. Nach der ersten Übestunde erklärten aber die Stubengenossen, dies sei das erste- und letztemal gewesen, und sie verbäten sich das heillose Gestöhn. Von da an strich Lucius mit seiner Geige ruhelos durchs Kloster, stille Winkel zum Üben suchend, von wo dann kratzend, quietschend und winselnd sonderbare Töne hervordrangen und die Nachbarschaft beängstigten.
Es war, sagte der Dichter Heilner, als flehe die gequälte alte Geige aus allen ihren Wurmstichen verzweifelt um Schonung. Da keine Fortschritte erfolgten, wurde der gepeinigte Lehrer nervös und grob, Lucius übte immer verzweifelter, und sein bisher selbstzufriedenes Krämergesicht setzte Sorgenfalten an. Es war die reine Tragödie, denn als am Ende der Lehrer ihn für völlig unfähig erklärte und sich weigerte, die Stunden fortzusetzen, wählte der betörte Lernlustige das Klavier und quälte sich auch damit lange, fruchtlose Monate hindurch, bis er mürb war und still verzichtete. In späteren Jahren dann aber, wenn von Musik die Rede war, ließ er etwa
durchblicken, auch er habe ehedem sowohl Klavier wie Geige gelernt und sei nur durch die Verhältnisse diesen schönen Künsten leider allmählich entfremdet worden.
So war die Stube Hellas häufig in der Lage, sich über ihre komischen Insassen zu amüsieren, denn auch der Schöngeist Heilner führte manche lächerliche Szene auf. Karl Hamel spielte den Ironiker und witzigen Beobachter. Er war um ein Jahr älter als die andern, das verlieh ihm eine gewisse Überlegenheit, doch brachte er es zu keiner geachteten Rolle; er war launisch und fühlte etwa alle acht Tage das Bedürfnis, seine Körperkraft in einer Rauferei zu erproben, wobei er dann wild und fast grausam war.
Hans Giebenrath sah dem mit Erstaunen zu und ging seine stillen Wege vor sich hin als ein guter, aber ruhiger Kamerad. Er war fleißig, fast so fleißig wie Lucius, und genoß die Achtung seiner Stubenkumpane mit Ausnahme Heilners, der den genialen Leichtsinn auf seine Fahne geschrieben hatte und ihn gelegentlich als einen Streber verspottete. Im ganzen fanden sich alle die vielen, in der raschen Entwicklung ihrer Jahre stehenden Knaben wohl ineinander, wenn auch abendliche Raufhändel auf den Dormenten nichts Seltenes waren. Denn man war zwar mit Eifer bestrebt, sich erwachsen zu fühlen und das noch ungewohnte »Sie«sagen der Lehrer durch
wissenschaftlichen Ernst und gutes Benehmen zu rechtfertigen, und man sah auf die eben
verlassene Lateinschule mindestens so hochmütig und mitleidig zurück wie ein angehender Student aufs Gymnasium. Aber je und je brach durch die künstliche Würde doch eine
unverfälschte Bubenhaftigkeit hervor und wollte ihr Recht haben. Dann widerklang das Dorment von Getrampel und gesalzenen Knabenschimpfworten. Für den Leiter oder Lehrer einer solchen Anstalt müßte es lehrreich und köstlich sein, zu beobachten, wie nach den ersten Wochen des Zusammenlebens die Knabenschar einer sich setzenden chemischen Mischung gleicht, worin
schwankende Wolken und Flocken sich ballen, wieder lösen und anders formen, bis eine Zahl von festen Gebilden da ist. Nach Überwindung der ersten Scheu und nachdem alle einander genügend kennengelernt hatten, begann ein Wogen und Durcheinandersuchen, Gruppen traten zusammen, Freundschaften und Antipathien traten zutage. Selten schlossen sich Landsleute und frühere
Weitere Kostenlose Bücher