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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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am
    ersten Tag, er sei ein Dichter und Schöngeist, und es ging die Sage, er habe seinen Aufsatz im Landexamen in Hexametern abgefaßt. Er redete viel und lebhaft, besaß eine schöne Violine und schien sein Wesen an der Oberfläche zu tragen, das hauptsächlich aus einer jugendlich unreifen Mischung von Sentimentalität und Leichtsinn bestand. Doch trug er weniger sichtbar auch Tieferes in sich. Er war an Leib und Seele über sein Alter entwickelt und begann schon
    versuchsweise eigene Bahnen zu wandeln. Der sonderbarste Hellasbewohner war aber Emil
    Lucius, ein verstecktes, blaßblondes Männlein, zäh, fleißig und trocken wie ein greiser Bauer.
    Trotz seiner unfertigen Statur und Züge machte er nicht den Eindruck eines Knaben, sondern hatte überall etwas Erwachsenes an sich, als wäre an ihm nun einmal nichts mehr zu ändern.
    Gleich am ersten Tage, während die anderen sich langweilten, plauderten und sich
    einzugewöhnen suchten, saß er still und gelassen über einer Grammatik, hatte
    die Ohren mit den Daumen zugestopft und lernte drauflos, als gälte es, verlorene Jahre
    einzuholen.
    Diesem stillen Kauz kam man erst nach und nach auf seine Schliche und fand in ihm einen so raffinierten Geizkragen und Egoisten, daß gerade seine Vollkommenheit in diesen Lastern ihm eine Art von Achtung oder wenigstens Duldung eintrug. Er hatte ein durchtriebenes Spar- und Profitsystem, dessen einzelne Finessen nur allmählich zutage traten und Staunen erregten. Es begann frühmorgens beim Aufstehen damit, daß Lucius im Waschsaal entweder als erster oder als letzter eintrat, um das Handtuch und womöglich auch die Seife eines anderen zu benutzen und seine eigenen Sachen zu schonen. So brachte er es zustande, daß sein Handtuch stets für zwei oder mehr Wochen vorhielt. Nun mußten aber die Tücher alle acht Tage erneuert werden, und jeden Montagvormittag hielt der Oberfamulus hierüber Kontrolle ab. Also hängte auch Lucius jeden Montag früh ein frisches Tuch an seinen numerierten Nagel, holte es aber in der Mittagspause wieder weg, faltete es sauber zusammen, tat es in den Kasten zurück und hängte dafür das geschonte alte wieder auf. Seine Seife war hart und gab wenig her, dafür hielt sie monatelang aus. Deshalb war aber Emil Lucius keineswegs von vernachlässigtem Äußeren,
    sondern sah stets proper aus, kämmte und scheitelte sein dünnes, blondes Haar mit Sorgfalt und schonte Wäsche und Kleidung aufs beste. Vom Waschsaal ging es zum Frühstück. Dazu gab es eine Tasse Kaffee, ein Stück Zucker und einen Wecken. Die meisten fanden das nicht üppig, denn junge Leute haben nach achtstündigem Schlaf gewöhnlich einen tüchtigen Morgenhunger.
    Lucius war zufrieden, sparte sich das tägliche Stück Zucker am Munde ab und fand stets
    Abnehmer dafür, zwei Stück für einen Pfennig oder fünfundzwanzig Stück für ein Schreibheft.
    Daß er des Abends, um das teure Öl zu sparen, gern beim Scheine fremder Lampen arbeitete, versteht sich von selber. Dabei war er nicht etwa ein Kind armer Eltern, sondern stammte aus ganz behaglichen Verhältnissen, wie denn überhaupt die Kinder gänzlich armer Leute selten zu wirtschaften und zu sparen verstehen, vielmehr stets soviel brauchen, als sie haben, und kein Zurücklegen kennen.
    Emil Lucius dehnte sein System aber nicht nur auf Sachbesitz und greifbare Güter aus, sondern suchte auch im Reich des Geistes, wo er konnte, seinen Vorteil herauszuschlagen. Hierbei war er so klug, nie zu vergessen, daß aller geistige Besitz nur von relativem Werte ist, darum wandte er wirklichen Fleiß nur an die Fächer, deren Bebauung in einem spätem Examen Früchte tragen konnte, und begnügte sich in den übrigen bescheiden mit einem mäßigen Durchschnittszeugnis.
    Was er lernte und leistete, maß er stets nur an den Leistungen der Mitschüler, und er wäre lieber mit halben Kenntnissen Erster als mit doppelten Zweiter gewesen. Darum sah man ihn abends, wenn die Kameraden sich allerlei Zeitvertreib, Spiel und Lektüre hingaben, still an der Arbeit sitzen. Das Lärmen der andern störte ihn durchaus nicht, er warf sogar gelegentlich einen neidlos vergnügten Blick darauf. Denn wenn alle andern auch gearbeitet hätten, wäre seine Mühe ja nicht rentabel gewesen. Alle diese Schlauheiten und Kniffe nahm dem fleißigen Streber niemand übel. Aber wie alle Ubertreiber und Allzuprofitlichen tat auch er bald einen Schritt ins Törichte. Da aller Unterricht im Kloster unentgeltlich war, kam er auf die

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