Unterm Rad
Schließlich zitterte Hans, so lieb der Freund ihm war, jeden Abend vor seinem Kommen und arbeitete in den obligatorischen Arbeitsstunden doppelt eifrig und eilig, um nichts zu versäumen. Noch peinlicher war es ihm, als Heilner auch theoretisch seinen Fleiß zu
bekämpfen anfing.
»Das ist Taglöhnerei«, hieß es, »du tust all diese Arbeit ja doch nicht gern und freiwillig, sondern lediglich aus Angst vor den Lehrern oder vor deinem Alten. Was hast du davon, wenn du Erster oder Zweiter wirst? Ich bin Zwanzigster und darum doch nicht dümmer als ihr Streber.«
Entsetzt war Hans auch, als er zum erstenmal sah, wie Heilner mit seinen Schulbüchern umging.
Er hatte einmal seine Bücher im Hörsaal liegenlassen und entlehnte, da er sich auf die nächste Geographiestunde vorbereiten wollte, Heilners Atlas. Da sah er mit Grausen, daß jener ganze Blätter mit dem Bleistift verschmiert hatte. Die Westküste der Pyrenäischen Halbinsel war zu einem grotesken Profil ausgezogen, worin die Nase von Porto bis Lissabon reichte und die Gegend am Kap Finisterre zu einem gekräuselten Lockenschmuck stilisiert war, während das Kap St. Vincent die schön ausgedrehte Spitze eines Vollbartes bildete. So ging es von Blatt zu Blatt; auf die weißen Rückseiten der Karten waren Karikaturen gezeichnet und freche Ulkverse geschrieben, und an Tintenflecken fehlte es auch nicht. Hans war gewohnt, seine Bücher als Heiligtümer und Kleinodien zu behandeln, und er empfand diese Kühnheiten halb als
Tempelschändungen, halb als zwar verbrecherische, aber doch heroische Heldentaten.
Es konnte scheinen, als wäre der gute Giebenrath für seinen Freund lediglich ein angenehmes Spielzeug, sagen wir eine Art Hauskatze, und Hans selber fand das zuweilen. Aber Heilner hing doch an ihm, weil er ihn brauchte. Er mußte jemand haben, dem er sich anvertrauen konnte, der ihm zuhörte, der ihn bewunderte. Er brauchte einen, der still und lüstern zuhörte, wenn er seine revolutionären Reden über Schule und Leben hielt. Und er brauchte auch einen, der ihn tröstete und dem er den Kopf in den Schoß legen durfte, wenn er melancholische Stunden hatte. Wie alle solche Naturen litt der junge Dichter an Anfällen einer grundlosen, ein wenig koketten
Schwermut, deren Ursachen teils das leise Abschiednehmen der Kinderseele, teils der noch ziellose Überfluß der Kräfte, Ahnungen und Begierden, teils das unverstandene dunkle Drängen des Mannbarwerdenssind. Dann hatte er ein krankhaftes Bedürfnis, bemitleidet und gehätschelt zu werden. Früher war er ein Mutterliebling gewesen, und jetzt, solange er noch nicht zur Frauenliebe reif war, diente ihm der gefügige Freund als Tröster. Oft kam er abends
todunglücklich zu Hans, entführte ihn seiner Arbeit und forderte ihn auf, mit ihm ins Dorment hinauszugehen. Dort in der kalten Halle oder im hohen, dämmernden Oratorium gingen sie
nebeneinander auf und ab oder setzten sich fröstelnd in ein Fenster. Heilner gab dann allerlei jammervolle Klagen von sich, nach Art von lyrischen und Heine-lesenden Jünglingen, und war in die Wolken einer etwas kindischen Traurigkeit gehüllt, welche Hans zwar nicht recht verstehen konnte, die ihm aber doch Eindruck machte und ihn sogar zuweilen ansteckte. Der empfindliche Schöngeist war namentlich bei trübem Wetter seinen Anfällen ausgesetzt, und meistens
erreichte der Jammer und das Gestöhne seinen Höhepunkt an Abenden, wo spätherbstliche
Regenwolken den Himmel verdüsterten und hinter ihnen, durch trübe Flore und Ritzen schauend, der Mond seine Bahn beschrieb. Dann schwelgte er in ossianischen Stimmungen und zerfloß in nebelhafter Wehmut, die sich in Seufzern, Reden und Versen über den unschuldigen Hans ergoß.
Von diesen Leidensszenen bedrückt und gepeinigt, stürzte sich dieser in den ihm
übrigbleibenden Stunden mit hastigem Eifer in die Arbeit, die ihm doch immer schwerer fiel. Daß das alte Kopfweh wiederkam, wunderte ihn nicht weiter; aber daß er immer häufiger tatlose, müde Stunden hatte und sich stacheln mußte, um nur das Notwendige zu leisten, das machte ihm schwere Sorge. Zwar fühlte er dunkel, daß die Freundschaft mit dem Sonderling ihn
erschöpfte und irgendeinen bisher unberührten Teil seines Wesens krank machte, aber je
düsterer und weinerlicher jener war, desto mehr tat er ihm leid, und desto zärtlicher und stolzer machte ihn das Bewußtsein, dem Freunde unentbehrlich zu sein.
Zudem spürte er wohl, daß dieses kränkliche
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