Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
Vom Netzwerk:
alte Magd, Tisch und Geräte und das ganze Zimmer kam ihm plötzlich alt geworden vor, und er sah alles mit einem Gefühl von Erstaunen, Fremdheit und Zärtlichkeit an, als sei er soeben von einer langen Reise heimgekehrt. Damals, als er mit seinem mörderlichen Aste liebäugelte, hatte er dieselben Menschen und Sachen mit der wehmütig überlegenen Empfindung eines Abschiednehmenden betrachtet, jetzt war's ein
    Zurückkehren, Erstaunen, Lächeln, Wiederbesitzen. Man hatte gegessen, und Hans wollte schon aufstehen, da sagte sein Vater in seiner kurzen Art: »Magst du gern Mechaniker werden, Hans, oder lieber ein Schreiber?« »Wieso?« fragte Hans erstaunt zurück. »Du könntest Ende nächster Woche beim Mechaniker Schuler eintreten oder übernächste Woche auf dem Rathaus als
    Lehrling. Überleg dir's ordentlich! Wir reden dann morgen darüber.«
    Hans stand auf und ging hinaus. Die plötzliche Frage hatte ihn verwirrt und geblendet.
    Unerwartet stellte sich das tägliche, tätige, frische Leben vor ihn hin, dem er seit Monaten fremd geworden war, hatte ein lockendes Gesicht und ein drohendes Gesicht, versprach und forderte.
    Eine rechte Lust hatte er weder zum Mechaniker noch zum Schreiber. Die strenge körperliche Arbeit beim Handwerk schreckte ihn ein wenig. Da fiel ihm sein Schulfreund August ein, der ja Mechaniker geworden war und den er fragen konnte.
    Während er der Sache nachdachte, wurden seine Vorstellungen trüber und blasser, die
    Angelegenheit schien ihm doch nicht so gar eilig und wichtig. Etwas anderes trieb und
    beschäftigte ihn, er schritt unruhig die Hausflur auf und ab, und plötzlich nahm er seinen Hut, verließ das Haus und ging langsam auf die Gasse hinaus. Es war ihm eingefallen, er müsse heute die Emma noch einmal sehen.
    Es dunkelte schon. Aus einem nahen Wirtshaus tönte Geschrei und heiseres Singen herüber.
    Manche Fenster waren beleuchtet, da und dort entzündete sich eins und wieder eins und legte einen schwachen roten Schein in die dunkle Luft. Eine lange Reihe junger Mädchen, Arm in Arm, flanierte unter lautem Gelächter und Gerede fröhlich gaßab, schwankte im unsicheren Licht und lief wie eine warme Woge von Jugend und Lust durch die entschlummernden Gassen. Hans sah ihnen lange nach, das Herz schlug ihm bis in den Hals. Hinter einem mit Gardinen verhängten Fenster hörte man Geige spielen. Am Brunnen wusch ein Weib Salat. Auf der Brücke spazierten zwei Burschen mit ihren Schätzen. Der eine hielt sein Mädchen lose an der Hand, schlenkerte ihren Arm und rauchte seine Zigarre. Das zweite Paar ging langsam und engverschlungen weiter, der Bursch umfaßte die Hüfte des Mädchens, und sie drückte Schulter und Kopf fest gegen seine Brust. Hans hatte das hundertmal gesehen und nicht beachtet. Jetzt hatte es einen heimlichen Sinn, eine unklare, aber lüstern süße Bedeutung; sein Blick blieb auf der Gruppe ruhen, und seine Phantasie drängte ahnend einem nahen Verständnis entgegen. Beklommen und im
    Innersten aufgerüttelt, fühlte er sich einem großen Geheimnis nahe, von dem er nicht wußte, ob es köstlich oder schrecklich wäre, aber von beidem empfand er bebend etwas voraus. Vor dem Flaigschen Häuschen machte er halt und fand nicht den Mut einzutreten. Was sollte er drinnen tun und sagen? Er mußte daran denken, wie er als ein Bub von elf und zwölf Jahren oft
    hierhergekommen war; dann hatte Flaig ihm biblische Geschichten erzählt und seinen stürmisch neugierigen Fragen über die Hölle, den Teufel und die Geister standgehalten. Diese Erinnerungen waren unbequem und gaben ihm ein schlechtes Gewissen. Er wußte nicht, was er tun wollte, er wußte nicht einmal, was er eigentlich wünschte, doch wollte ihm scheinen, er stehe vor etwas Heimlichem und Verbotenem. Es schien ihm unrecht gegen den Schuhmacher zu sein, daß er im Finstern vor seiner Türe stand, ohne einzutreten. Und wenn jener ihn da stehen sähe oder jetzt aus der Türe träte, würde er ihn wahrscheinlich nicht einmal schelten, sondern auslachen, und davor graute ihm am meisten.
    Er schlich sich hinter das Haus und konnte nun vom Gartenzaun aus in die erleuchtete
    Wohnstube hineinsehen. Den Meister sah er nicht. Die Frau schien etwas zu nähen oder zu stricken, der älteste Knabe war noch auf und saß lesend am Tisch. Die Emma ging hin und her, offenbar mit Aufräumen beschäftigt, so daß er sie immer nur für Augenblicke zu sehen bekam.
    Es war so still, daß man jeden fernsten Schritt in der Gasse und

Weitere Kostenlose Bücher