Unterm Rad
ihm in den Achseln weh.
Von da an sprach er fast kein Wort mehr und vermied den Blick des Mädchens. Dafür sah er sie, sobald sie wegschaute, starr und mit einer Mischung von ungekannter Lust und bösem Gewissen an. In dieser Stunde zerriß etwas in ihm und tat ein neues, fremdartig verlockendes Land mit fernen blauen Küsten sich vor seiner Seele auf. Er wußte noch nicht oder ahnte nur, was die Bangnis und süße Qual in ihm bedeute, und wußte auch nicht, was größer in ihm war, Pein oder Lust. Die Lust aber bedeutete den Sieg seiner jungen Liebeskraft und das erste Ahnen vom gewaltigen Leben, und die Pein bedeutete, daß der Morgenfriede gebrochen war und daß seine Seele das Land der Kindheit verlassen hatte, das man nicht wiederfindet. Sein leichtes Schifflein, knapp dem ersten Schiffbruch entronnen, war nun in die Gewalt neuer Stürme und in die Nähe wartender Untiefen und halsbrechender Klippen geraten, durch welche auch die bestgeleitete Jugend keinen Führer hat, sondern aus eigenen Kräften Weg und Rettung finden muß. Es war gut, daß nun der Lehrbub wiederkam und ihn an der Presse ablöste. Hans blieb noch eine Weile da. Er hoffte noch auf eine Berührung oder ein freundliches Wort von Emma. Diese plauderte wieder an fremden Keltern herum. Und da Hans sich vor dem Lehrling genierte, drückte er sich bald nach Hause, ohne adieu zu sagen.
Alles war sonderbar anders geworden, schön und erregend. Die von den Trebern feist
gewordenen Sperlinge schossen lärmend durch den Himmel, der noch nie so hoch und schön
und so sehnsüchtig blau gewesen war. Niemals hatte der Fluß einen so reinen, grünblauen, lachenden Spiegel gehabt, noch ein so blendend weißes, brausendes Wehr. Alles schien gleich zieren Bildern neu bemalt hinter klaren, frischen Glasscheiben zu stehen. Alles schien auf den Beginn eines großen Festes zu warten. Auch in der eigenen Brust empfand er ein beengend starkes, banges und süßes Wogen seltsam verwegener Gefühle und ungewöhnlicher, greller
Hoffnungen, zusammen mit einer schüchtern zweifelnden Angst, es sei nur ein Traum und könne niemals wahr werden. Anschwellend wurden diese zwiespältigen Empfindungen zu einem dunkel auftreibenden Quell, zu einem Gefühl, als wolle etwas allzu Starkes sich in ihm losmachen und Luft gewinnen - vielleicht ein Schluchzen, vielleicht ein Singen, Schreien oder lautes Lachen. Erst zu Hause beruhigte sich diese Erregung ein wenig. Dort war freilich alles wie immer.
»Wo kommst denn her?« fragte Herr Giebenrath. »Vom Flaig an der Mühle.«
»Wieviel hat der gemostet?«
»Zwei Faß, glaub' ich.«
Er bat, die Flaigschen Kinder einladen zu dürfen, wenn der Vater ans Mosten käme.
»Versteht sich«, brummte der Papa. »Ich mach's nächste Woche. Hol sie dann nur!«
Es war noch eine Stunde bis zum Abendessen. Hans ging in den Garten hinaus. Außer den
beiden Tannen war wenig Grünes mehr da. Er riß eine Haselgerte ab, ließ sie durch die Luft sausen und stöberte mit ihr im welken Laub herum. Die Sonne war schon hinterm Berg, dessen schwarzer Umriß mit haarfein gezeichneten Tannenspitzen den grünlichblauen, feuchtklaren Späthimmel durchschnitt. Eine graue, langgestreckte Wolke, gelb und bräunlich angeglüht, schwamm langsam und wohlig wie ein heimkehrendes Schiff durch die dünne, goldige Luft
talaufwärts.
Von der reifen, farbig satten Schönheit des Abends in einer seltsamen, ihm fremden Weise ergriffen, schlenderte Hans durch den Garten. Zuweilen blieb er stehen, schloß die Augen und versuchte, sich die Emma vorzustellen, wie sie ihm an der Presse gegenübergestanden war, wie sie ihn aus ihrem Becher hatte trinken lassen, wie sie sich über die Kufe gebückt und errötend wieder erhoben hatte. Er sah ihre Haare, ihre Figur im engen blauen Kleid, ihren Hals und von dunklen Härchen braun verschatteten Nacken, und alles erfüllte ihn mit Lust und Zittern, nur ihr Gesicht konnte er sich durchaus nicht mehr vorstellen.
Als die Sonne drunten war, spürte er die Kühle nicht und empfand die vorschreitende
Dämmerung wie einen Schleier voll von Heimlichkeiten, für die er keine Namen wußte. Denn er begriff zwar, daß er sich in die Heilbronnerin verliebt habe, aber das Arbeiten der erwachenden Männlichkeit in seinem Blute begriff er nur dunkel als einen ungewohnten, gereizten und müdemachenden Zustand.
Beim Abendessen war es ihm sonderbar, mit seinem verwandelten Wesen mitten in der
altgewohnten Umgebung zu sitzen. Der Vater, die
Weitere Kostenlose Bücher