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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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trieb.
    Er glaubte, augenblicklich einschlafen zu müssen. Aber kaum lag er und war ein wenig warm geworden, so kam das Herzklopfen wieder und das ungleiche, gewaltsame Wallen des Blutes.
    Sobald er die Augen zutat, war's ihm, als hinge der Mund des Mädchens noch an seinem, söge ihm die Seele aus und erfülle ihn mit peinigender Hitze.
    Spät schlief er ein und stürzte in gehetzter Flucht von Traum zu Traum. Er stand in einer ängstlich tiefen Finsternis, um sich tastend griff er Emmas Arm, sie umfaßte ihn, und sie sanken zusammen in langsamem Fall in eine warme, tiefe Flut. Der Schuhmacher stand plötzlich da und fragte, warum er ihn nicht mehr besuchen wolle, da mußte Hans lachen und merkte, daß es nicht Flaig, sondern Hermann Heilner war, der neben ihm im Maulbronner Oratorium in einem Fenster saß und Witze machte. Aber sogleich verflog auch das, und er stand an der Mostpresse, die Emma stemmte sich gegen den Hebel, und er kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Sie bog sich herüber und suchte seinen Mund, es wurde still und stockfinster, und nun sank er wieder in eine warme, schwarze Tiefe und verging vor Schwindel. Zugleich hörte er den Ephorus eine Rede halten, von der er nicht wußte, ob sie ihm gelte. Dann schlief er bis tief in den Morgen hinein. Es war ein heiter goldiger Tag. Er ging lange im Garten auf und ab, bemühte sich aufzuwachen und klar zu werden, war aber von einem zähen, schläfrigen Nebel umgehen. Er sah violette Astern, die allerletzten Blumen des Gartens, schön und lachend in der Sonne stehen, als wäre es noch im August, und sah das warme, liebe Licht um die verdorrten Reiser und Zweige und kahlen Ranken zärtlich und einschmeichelnd fluten, als wäre es Vorfrühlingszeit. Aber er sah es nur, er erlebte es nicht, es ging ihn nichts an. Plötzlich ergriff ihn eine klare, starke Erinnerung aus der Zeit, da hier im Garten noch seine Hasen herumsprangen und sein Wasserrad und
    Hammerwerkchen lief. Er mußte an einen Septembertag denken vor drei Jahren. Es war der
    Vorabend vor dem Sedansfest; August war zu ihm gekommen und hatte Efeu mitgebracht, nun wuschen sie ihre Fahnenstangen blank und befestigten den Efeu an den goldenen Spitzen, von morgen redend und sich auf morgen freuend. Sonst war nichts und geschah nichts, aber sie waren beide so voll von Festahnung und großer Freude gewesen, die Fahnen hatten in der Sonne geglänzt, die Anna hatte Zwetschgenkuchen gebacken, und zur Nacht sollte auf dem hohen
    Felsen das Sedansfeuer angezündet werden.
    Hans wußte nicht, warum er gerade heute an jenen Abend denken mußte, nicht, warum diese Erinnerung so schön und mächtig war, noch warum sie ihn so elend und traurig machte. Er wußte nicht, daß im Kleide dieser Erinnerung seine Kindheit und sein Knabentum noch einmal fröhlich und lachend vor ihm aufstand, um Abschied zu nehmen und den Stachel eines gewesenen und nie wiederkehrenden großen Glückes zurückzulassen. Er empfand nur, daß diese Erinnerung mit dem Denken an Emma und an gestern abend sich nicht vertrug und daß etwas in ihm
    aufgestanden sei, das mit dem damaligen Glücklichsein nicht vereinbar war. Er glaubte, wieder die goldenen Fahnenspitzen blinken zu sehen, seinen Freund August lachen zu hören und den Duft der frischen Kuchen zu riechen, und das war alles so heiter und glückselig und ihm so ferngerückt und fremd geworden, daß er sich an den rauhen Stamm der großen Rottanne lehnte und in ein hoffnungsloses Schluchzen ausbrach, das ihm für den Augenblick Trost brachte und Erlösung gewährte. Um Mittag lief er zu August, der jetzt erster Lehrling geworden und mächtig auseinandergegangen und gewachsen war. Er erzählte ihm sein Anliegen. »Das ist so 'ne Sache«, machte jener und schnitt ein welterfahrenes Gesicht dazu. »Das ist so 'ne Sache. Weil du nämlich so ein Schwachmatikus bist. Im ersten Jahr hast du immer beim Schmieden das verdammte
    Draufschlagen, und so 'n Vorhammer ist kein Suppenlöffel. Und mußt die Eisen herumtragen und abends aufräumen, und zum Feilen gehört auch eine Kraft, und im Anfang, bis du was loshast, kriegst du nix als alte Feilen, die hauen nix und sind glatt wie ein Affenarsch.« Hans wurde sogleich kleinlaut.
    »Ja, dann soll ich's lieber bleiben lassen?« fragte er zaghaft. »Jerum, das hab' ich doch nicht gesagt! Sei doch kein Lamech! Bloß daß es im Anfang kein Tanzboden ist. Aber sonst, ja - so ein Mechaniker ist was Feines, weißt du, und 'n guten Kopf muß einer auch haben,

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