Unterm Strich
Migrantenfamilien oder bildungsfernen deutschen Familien, die Beschäftigungsperspektiven älterer Erwachsener bis zu einem Renteneintrittsalter von 67, die gesellschaftliche Integration und innere Friedfertigkeit unserer Gesellschaft. Wie immer die Frage lautet, die Antwort ist stets dieselbe: Alles hängt an der Bildung - der Bildung im weitesten Sinne: von der Kinderbetreuung über die allgemeinbildenden Schulen, die berufliche und akademische Ausbildung, die Weiterbildung im Berufsleben bis zur Umschulung im höheren Erwachsenenalter.
Das heute brüchig gewordene, wenn nicht ausgehebelte Aufstiegsversprechen, das der SPD in den ersten Jahrzehnten der Republik stetigen Zulauf bescherte, lässt sich nur wieder aktivieren, wenn sich die SPD an die Spitze umfassender Bildungsreformen stellt und die Hindernisse beseitigt, die ihnen entgegenstehen. Zumindest Landtagswahlen werden inzwischen maßgeblich unter dem Gesichtspunkt der Bildungskompetenz oder des politischen Versagens in der Bildungspolitik entschieden.
7. Das selbstreferenzielle System der SPD, ihr Selbstbild und ihre Wahrnehmung, ihre organisatorischen und kulturellen Verhaftungen im 20. Jahrhundert habe ich bereits eingehend beschrieben. Danach drängt sich die Empfehlung einer tiefgreifenden Organisationsreform geradezu auf. Sie müsste die Partei öffnen für andere gesellschaftliche Gruppen und Nichtmitglieder. Gleichzeitig muss die SPD ihre Präsenz in gesellschaftlichen Organisationen wie Vereinen, Verbänden oder dem Ehrenamt verstärken - und ihre Gespräche mit sich selbst einschränken.
Die Mechanismen von Personalauswahl und -aufstieg müssen dieser Öffnung entsprechen. Die neue Organisation müsste Mitgliedern mehr Beteiligungsmöglichkeiten bieten - von Befragungen bis hin zu Foren der virtuellen Teilnahme, Veranstaltungsformate auf Bürgerinteressen zuschneiden, die kommunikative Plattform des Internets in den gleichen Rang erheben wie die klassische Öffentlichkeitsarbeit und die Nominierung von Spitzenkandidaten auf kommunaler, Landes- und Bundesebene demokratisieren. Vor allem sollte die SPD ihrer weiteren Fragmentierung in Flügel, Arbeitsgemeinschaffen und Gruppen, die teilweise eigene Beiträge erheben und sich eigene Statuten geben, entgegenwirken. Organisationsreformen ersetzen keine Politik. Aber ohne sie wird die SPD zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen werden und selbst die ansprechendste Politik nur schwer über die Reichweite ihrer (schwindenden) Basis hinaus vermitteln können.
»Mehr Freiheit wagen!«
Die Sozialdemokratie sollte gerade in dieser Zeit der Veränderungen und Umbrüche ihr Ideal der Freiheit mit ganzer Leidenschaft wiederbeleben. Nicht zuletzt die Art und Weise, in der Joachim Gauck als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten dieses große Thema aus den engbedruckten Spalten der Feuilletons und den Sonntagsmatinees ans Licht einer von seinen Worten mehr und mehr faszinierten Öffentlichkeit zog, sollte der SPD Antrieb geben. Immerhin lautet die Reihenfolge der Ideale, die sich die SPD auf ihre Fahne - und zwar schon auf ihre erste und älteste von 1863 - geschrieben hat: »Freiheit - Gerechtigkeit - Solidarität«. So und nicht anders. Freiheit zuerst!
Mit Leidenschaft haben Sozialdemokraten für die Freiheit von materieller Ungleichheit und Not, von Unrecht, obrigkeitsstaatlicher Willkür und autoritärer Herrschaft gekämpft, mit Leidenschaft für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte - und das oft unter großen Opfern. Kein anderer als Willy Brandt formulierte in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender der SPD am 14. Juni 1987 sein besonderes »Vermächtnis an die Partei« (Peter Merseburger): »Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit ... Deutsche Sozialdemokraten dürfen Kränkungen der Freiheit nie und nimmer hinnehmen. Im Zweifel für die Freiheit! Auf Freiheit zu pochen - zuerst und zuletzt - für uns Europäer und für das eigene Volk, Freiheit einzuklagen für die Verfolgten und Ohnmächtigen - dies sei meine letzte >Amtshandlung< als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.«
Dass der sich damals zu den Enkeln, wenn nicht zu den Haupterben von Willy Brandt zählende Oskar Lafontaine, der dieser Rede Beifall zollte, Jahre später Joachim Gauck in seinem Freiheitsverständnis zu brüskieren und auf billigste Art zu diskreditieren suchte, gehört zu den ebenso beschämenden
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