Shooting Stars (German Edition)
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Genau weiß ich es nicht mehr. Auch nicht, aus welchem Zusammenhang heraus ich mir diesen Gedanken zum ersten Mal in den Kopf gesetzt, warum ich so vehement an ihm festgehalten, mich an ihm oder ihn in mir festgehalten habe.
Ich frage mich, wer von uns die treibende Kraft ist. Bin ich es, der diese Idee vorantreibt? Oder ist sie es, die mich vor sich hertreibt?
Je mehr ich über sie nachdenke, desto herkunftsloser und beliebiger wird sie. Desto mächtiger und stärker erscheint mir diese Idee.
Und nicht immer, aber meistens wenn ich mir klarzumachen versuche, woher sie gekommen ist, fällt mir nur ein, wann. Nein. Nicht einmal wann. Es fällt mir bloß ein, wo ich diesen Gedanken zum ersten Mal gedacht habe: Auf meiner grünen Ledercouch, auf die ich mich gesetzt habe, um fernzusehen. Wie so oft. Nachmittags. Um dem Fernseher zuzuhören. Ich schließe meine Augen und lasse seine Stimme wirken. Um das Gefühl zu haben, nicht alleine zu sein. Oder aus bloßer Gewohnheit. Weil ich das immer schon so gemacht habe. Nur seinen Geräuschen zuzuhören. Mit geschlossenen Augen den Fernseher zu einer Art Radio zu degradieren. Die Geschichten, die er mir erzählt, nur halb wahr- und nicht ganz ernst zu nehmen.
Zwei Jahre, denke ich. Vielleicht sind es auch eineinhalb. Genauer weiß ich es nicht mehr. Und im Grunde spielt es auch keine Rolle. Im Grunde spielt die Zeit überhaupt keine Rolle mehr, seit ich so viel von ihr habe. Sie läuft mir aus den Fugen. Wenn ich schlafen kann. Wenn ich nicht schlafen kann. Wenn ich in einem halbleeren Restaurant sitze und die Zeit zwischen meiner Bestellung und dem Servieren vergeht wie im Flug. Wenn es scheinbar Stunden dauert, bis ich nach dem Essen bezahlen kann.
Und doch, sicher sogar weiß ich, dass sie immer noch läuft wie ein Uhrwerk, meine Zeit. Die viele Zeit, die ich habe, seit ich aufgehört habe, für sie zu arbeiten. Seit ich begonnen habe, für mich zu leben. Seit dem Tag, von dem an sie keinen Wert mehr auf mich gelegt haben, könnte man auch sagen. Könnte ich sagen. Und weitersagen: Seit sie auf mich und meine Fähigkeiten verzichten wollten. Weil sich die vielen Monate meines Trainings für sie bezahlt gemacht haben. Die Ausrüstung. Die Waffen, die ich effizient und sicher einzusetzen gelernt habe. Die Pistolen. Die Gewehre. Der Sprengstoff. Und all die anderen Werkzeuge, die ich in ihren Diensten verwenden sollte. Und die ich verwendet habe. Um ihre Zwecke durchzusetzen. Oder unsere.
Unser Ziel,
haben sie immer gesagt, wenn sie mir mitgeteilt haben, dass ich sie verwenden dürfe. Dass der
Waffengebrauch autorisiert
sei. Dass es ans Töten geht. Hätten sie auch sagen können.
Obwohl man all die Gründe beiseiteschiebt. Die Moral, sage ich jetzt. Weil ich nicht weiß, wie ich das sonst nennen sollte. Obwohl man, obwohl ich sie nicht ernst nehme, meine Zweifel. Die ich von mir wegschiebe. Weil ich weiß, dass sie mich noch nie weitergebracht haben. Ich blende all das aus, und doch hat es immer etwas Unwirkliches. Habe ich jedes Mal, wenn ich das offizielle Einverständnis bekommen hatte, für den Bruchteil einer Sekunde diesen kurzen Schwindel gespürt. Hat er die Welt für einen kurzen Moment zerfallen lassen. Bevor ich sie wieder scharf stellen, ihre Teile zusammensetzen und sie unter Kontrolle bringen konnte.
Und doch, es gibt diesen Moment. Wenn man weiß, wen sie ausgesucht haben, und wo man dieses Ziel bekämpfen wird oder neutralisieren. Neutralisieren, denke ich. Und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Über ihren sturen Willen, nicht töten zu sagen, wenn sie töten meinen. Und ich erinnere mich an ein Foto eines französischen Soldaten in Mali. An diesen Fremdenlegionär, dessen Bild um die halbe Welt ging. Weil er einen Schal mit Totenkopfaufdruck trug. Weil ihm ins Gesicht geschrieben stand, wofür sie ihn nach Mali geschickt hatten.
Er hätte sich das nicht ins Gesicht schreiben dürfen. Er wurde zur Rechenschaft gezogen, für diesen kurzen Moment der Ehrlichkeit. Niemand, denke ich, hätte Notiz von ihm genommen, wenn er für dieses Foto bloß, wie so viele andere Soldaten auch, sein Minimi in Anschlag gebracht hätte. Dieser Sprecher des französischen Generalstabes hätte sein Verhalten nie
inakzeptabel
genannt. Hätte nie gesagt, er sei
nicht repräsentativ für Frankreichs Vorgehen in Mali
. Niemand hätte eine Untersuchung eingeleitet, um die Identität des Legionärs zu ermitteln. Keiner sich die Mühe gemacht, unter all den Legionären,
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