Unterm Strich
wie ärgerlich stimmenden Erfahrungen der Bundespräsidentenwahl 2010.
»Im Zweifel für die Freiheit« - was bedeutet dieses Motto im zi. Jahrhundert für die SPD, die stets Freiheitspartei aus Überzeugung und Staatspartei aus Verantwortung war? Aus aktuellem Anlass lautet die Frage: Wer garantiert Freiheit? Der Markt oder der Staat? Die Finanzkrise hat eines gezeigt: Freiheit braucht Regeln, die für alle gelten, und nur der Staat kann solche Regeln setzen - nicht um Menschen zu gängeln, sondern um zu vermeiden, dass Einzelne mittels ihres materiellen oder sozialen Einflusses auf Kosten vieler ihr egoistisches Verständnis von Freiheit ausleben können. Sie hat gelehrt, dass das Ideal der Freiheit als Vorwand für Regel- und Zügellosigkeit missbraucht worden ist - und das hatte und hat mit wirklicher Freiheit, die immer Verantwortung bedeutet, rein gar nichts zu tun. Menschen, die von der Finanzkrise betroffen oder bedroht sind, muss ein derart missbrauchter Freiheitsbegriff zwangsläufig Angst vor Freiheit machen. Für sie bedeutet Freiheit eher Ohnmacht und Unsicherheit. Sie sind auf eine Instanz oder Institution angewiesen, die die Freiheit aller vor denen schützt, die ihre »Freiheit« ungezügelt ausleben und dazu die »freien« Kräfte des Marktes ungebremst entfesseln wollen.
Der Staat als Ordnungsrahmen einer demokratischen Zivilgesellschaft ist gewiss nicht die einzige Institution, die über die Freiheit wachen muss, aber er ist die wichtigste. Dieser Staat sollte gerade jetzt, in einer Zeit, in der unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung unter einem permanenten Veränderungsdruck steht, mehr Freiheit wagen. Die Modernisierung des Sozialstaates hat deshalb über alle Sachzwecke und pragmatischen Konzepte hinaus ein viel weiter reichendes Ziel. Wer den Sozialstaat von seinen stark paternalistischen und bevormundenden Zügen befreit, die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung hemmen, wird den Menschen neue Freiheiten der Selbstverwirklichung nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten zurückgeben.
Menschen brauchen die Möglichkeiten und Chancen einer »befähigenden Freiheit«, damit sie ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich in die Hand nehmen können. Es geht also nicht allein um eine Freiheit von etwas, sondern auch um eine Freiheit zu etwas. Diese Freiheit, die die Freiheit zur Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben nach eigenem Willen nennen, braucht ein hohes Maß an Verantwortung auf beiden Seiten. Der Staat sollte den Menschen diese Verantwortung grundsätzlich zumuten und zutrauen. Dass dieser Vertrauensbeweis gelegentlich enttäuscht werden wird, ist kein Grund, sie in Unmündigkeit zu belassen.
Der Hebel zu dieser befähigenden Freiheit ist Bildung. Bildung macht frei - nicht nur die Gedanken, sondern auch die Menschen selbst. Die bestmögliche Bildung und Ausbildung ist die sicherste Gewähr dafür, dass Menschen sich aus Zwängen und Stigmatisierungen, Ausgrenzung und Abschottung - und auch aus bürokratischer Gängelung - befreien können. Sie sollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Und weil das ohne eine ausreichende materielle Grundlage nicht zu schaffen ist, verbindet sich mit der Idee der befähigenden Freiheit das ursozialdemokratische Versprechen des sozialen Aufstiegs. Freiheit ist dafür die Voraussetzung, neue Freiheit sein Ertrag. Bei einem so definierten Freiheitsbegriff ist ein Zugewinn an Freiheit das effizienteste Programm gegen soziale Fliehkräfte.
Die Gleichung lautet: Mehr Bildung = mehr Freiheit = mehr Solidarität = mehr Gerechtigkeit. Für die SPD enthält diese Gleichung keine einzige Unbekannte, wenn ich mir auch erlaubt habe, die Reihenfolge zu ändern, denn Gerechtigkeit ist nach meinem Verständnis auch eine Folge solidarischen Verhaltens.
Freiheit und Demokratie mahnen uns: Wenn du dich nicht um uns kümmerst, dann verlassen wir dich.
»Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.:
Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.«
Ferdinand Lassalle
Impressum
Unterm Strich
Peer Steinbrück
Preis: EUR 23,00
Gebundene Ausgabe: 479 Seiten
Verlag: Hoffmann und Campe (16. September 2010)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3455501664
ISBN-13: 978-3455501667
ebook Erstellung - Oktober 2010 - TUX
Ende
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