Unterm Strich
externer Sicht erhebliches Vertrauen, das - wie sich zeigen sollte - bis zur Bundestagswahl nicht wieder zurückzugewinnen war. Intern geriet sie in eine Führungskrise und Debatte über ihre Identität und Richtung, die durchaus die Brisanz einer Spaltung in sich trug.
In dieser kaum zu leugnenden scheußlichen Lage traf sich Mitte Mai 2008 die engste Parteiführung mit Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler und Gesine Schwan im geschichtsträchtigen Cecilienhof in Potsdam. Kurt Beck hatte die drei unabhängigen und wachen Geister sozusagen als Sparringspartner eingeladen, die uns einen kritischen Spiegel entgegenhalten und wegweisende Empfehlungen geben sollten. So weit, so gut. Nach den ersten Bemerkungen von Kurt Beck, Hans-Jochen Vogel und Erhard Eppler erfuhr diese Runde eine verblüffende Veränderung ihres Aggregatzustands. Die recht flüssige und offene Diskussion über Lage und Perspektiven der SPD geriet unversehens zur Debatte über eine handfeste Personalie, die bei einigen eine gewisse Beklommenheit auslöste: die Nominierung von Gesine Schwan für die Bundespräsidentenwahl ein Jahr später im Mai 2009.
Frank-Walter Steinmeier, Peter Struck, Hubertus Heil und ich gehörten zu denjenigen, die einer solchen Nominierung skeptisch gegenüberstanden. Kurt Beck schien mir von dieser Position nicht weit entfernt zu sein. Aber noch während wir die Risiken erwogen - wie wird eine solche Kandidatur gegen einen amtierenden und durchaus beliebten Bundespräsidenten öffentlich wahrgenommen, was heißt das für die Koalition, welche Auswirkung hätte ein erneutes Scheitern auf den wenige Wochen später anlaufenden Bundestagswahlkampf? -, stellten wir fest, dass Gesine Schwans Nominierung im Bandenspiel mit Gruppen der Partei und über öffentlich tropfende Stichworte bereits eingefädelt war. So ging die Runde an diesem schönen Samstag im Mai mit der Verabredung auseinander, die Parteigremien mit dieser Frage zu befassen, obwohl eigentlich schon alles festgezurrt war - und einige von uns fragten sich still und verwundert, weshalb und wofür wir eigentlich in den Cecilienhof gereist waren.
Natürlich war das kein »coup de parti«, und das Argument von Gesine Schwan, wie es denn um das Selbstbewusstsein der SPD bestellt sei, wenn sie überlege, keinen eigenen Kandidaten aufzustellen, verfing auch bei mir. Aber die Wendung der Gesprächsrunde im Cecilienhof und das ganze Verfahren warfen ein Schlaglicht auf den Zustand der SPD mit ihren Hinterzimmern, Strippenziehern und öffentlichen Markierungen.
Spätestens im Februar/März 2008 wurde die Kanzlerkandidatenfrage in den Kulissen der SPD akut - und hochinfektiös. Der linke Teil der SPD, der sich durch Kurt Beck als Parteivorsitzenden - anders als in den Zeiten seiner Vorgänger - stärker eingebunden sah, wenn nicht gar durch seine Rhetorik und Aufgeschlossenheit für eher herkömmliche Deutungsmuster angesprochen fühlte, präferierte selbstredend nicht einen Kanzlerkandidaten des »Agenda-Schröderismus«. Dem anderen Flügel der SPD aus Seeheimern und weiten Teilen der Netzwerker ging es um den aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten, einen, der die SPD über 30 Prozent zu heben vermochte. Dies unterstellten sie dem Kandidaten mit den besten Umfrageergebnissen für die SPD, der allerdings - vielleicht deshalb - kaum die Sehnsucht der SPD nach dem gefühlten Gestern und ihre Orientierung auf eine zwar solidarische, aber jeder Machtoption ferne Minderheit bediente.
Die Kanzlerkandidatenfrage entwickelte sich zu einem quälenden Thema. Die Diskretion, die über jenen Gesprächen liegt, in denen ich als stellvertretender Vorsitzender gebeten wurde, initiativ zu werden - auch auf das Risiko hin, mir dabei einen üblen Steckschuss einzuhandeln -, soll nicht verletzt werden. Es war Kurt Beck selbst, der gerade noch rechtzeitig vor einem Aufbegehren von Teilen der SPD Ende August, Anfang September 2008 die Kandidatenfrage im Sinne Steinmeiers beantwortete, sich anschließend allerdings durch öffentliche Interpretation kompromittiert sah und mit seinem Rücktritt das Treffen am Schwielowsee zu einem historischen Datum in der Parteigeschichte der SPD machte.
Keine dieser Entwicklungen für sich, bis hin zur Frage der Kanzlerkandidatur, hätte die SPD 2007/08 in eine potenziell schismatische Situation bringen können, wenn sie nicht alle zusammen Ausdruck einer politischen Schubumkehr der SPD gewesen wären. Die von Beck angekündigte »Weiterentwicklung der Agenda 2010«
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